© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/10 22. Januar 2010

Markt und Moral
Strenge Regeln streng befolgen
von Franz Kromka

Francis Fukuyama irrte, als er aufgrund des schmählichen Falls des Sowjetkolosses glaubte, wir hätten – wie der Titel seines 1992 erschienenen aufsehenerregenden Buches lautete – „das Ende der Geschichte“ erreicht. Fukuyama hoffte, daß sich nach diesem Fall überall auf der Welt liberale Demokratien etablieren würden. Und in der Folge gäbe es keinerlei Kriege und Verheerungen mehr, sondern nur noch Frieden und Wohlstand. Doch die Geschichte ist, wie nicht anders zu erwarten war, nicht an ihrem harmonischen Ende angelangt. Ausgerechnet die westlichen Völker, wenngleich nicht nur diese, stecken in einer – möglicherweise langwierigen – ökonomischen Krise.

Aber namentlich in Deutschland scheinen wir es nicht nur mit Problemen zu tun zu haben, die wesentlich eine falsche Finanz- und vor allem Geldpolitik US-amerikanischer Regierungen verursacht hat. Hierzulande sind – nicht zuletzt als Folge des Aufruhrs der Achtundsechziger – in besonderer Weise zentrale Normen und Regeln, die den Wirtschaftsprozeß steuern, brüchig geworden. Gefahr ist damit im Verzug. Freiheit und Wohlstand gibt es nämlich immer nur dann, wenn strenge Regeln streng befolgt werden. Nicht nur die Väter der Sozialen Marktwirtschaft, auch antike Denker wußten bereits, daß das Wissen über diesen Zusammenhang zwischen Regelbefolgung und Wirtschaftserfolg im Verlauf der Zeit verlorengehen kann.

Weil das betriebliche Geschehen immer noch ziemlich reibungslos abläuft, meinen mehr und mehr Menschen, nun könne sich gerade auch in der Arbeitswelt ein lockeres Verhalten breitmachen. Pflichtbewußte Vorgesetzte werden als sauertöpfisch eingestuft, wie man überhaupt Gesetze, tradierte Sitten und Normen als Einschränkung empfindet. Eine als Schrankenlosigkeit vorgestellte Freiheit erreicht bei Meinungsumfragen Spitzenwerte. Die Begründer unserer Wirtschaftsordnung würden sich über die Zunahme von Maßlosigkeit, Korruption und Verantwortungslosigkeit im Wirtschaftsgeschehen nicht wundern. Immer wieder haben sie dargelegt, daß es ohne eine feste Moral, die sich „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Wilhelm Röpke) herausbildet, nur räuberkapitalistische Verhältnisse und soziale Zerrüttung gibt.

Den Vätern der Sozialen Marktwirtschaft ging es nicht oder nicht zuallererst um die Effizienz und Produktivität der Güterherstellung. Die Eigenverantwortung, die Freiheit der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, war ihnen wichtiger als Wirtschaftserfolg.

Den Gründervätern ging es um eine von Regeln beschränkte, disziplinierte Freiheit. Diese Freiheit hat Leistungsunterschiede und damit Einkommensdifferenzen zur Folge, und sie steht mithin in Konflikt mit der Gleichheit. Befragungen zeigen, daß von Mal zu Mal und vor allem im Osten Deutschlands die Gleichheit von immer mehr Bürgern der Freiheit, die Eigenverantwortung erfordert, vorgezogen wird. Erschreckend viele Menschen meinen, der gleichheitsfixierte Sozialismus sei ein gutes Ideengebäude gewesen, das im Falle der DDR leider nur unzulänglich realisiert wurde.

Es fügt sich ins Bild, daß viele Bürger der Ansicht sind, die erste Pflicht des Staates sei es, die Menschen vor den verschiedenen Lebensrisiken zu schützen. Doch der Wohltatenstaat beschert, wie international vergleichende Studien zeigen, nicht Lebensfreude und Lebensglück, sondern Mißmut, Nörgelei und vor allem Neid. Zudem ist er ungemein teuer, was mit den Rationalitätenfallen und Anspruchsspiralen sowie dem Immobilismus der bürokratischen Steuerungsapparate zu tun hat.

Im Mittelpunkt des Programms der „Sozialen Marktwirtschaft“ (Alfred Müller-Armack, von Ludwig Erhard 1952 zum Staatssekretär im Wirtschaftsministerium ernannt) steht die Maxime, daß der Bürger – im Rahmen seiner Fähigkeiten – für sich selbst zu sorgen habe. Das eigenverantwortliche Tun geht gewöhnlich mit jener besonderen Glückserfahrung einher, die der ungarisch-amerikanische Psychologe Mihaly Csikszentmihalyi als „flow“-Erlebnis beschrieben hat. Den Marktwirtschaftsvätern ging es übrigens nicht oder nicht zuallererst um die Effizienz und Produktivität der Güterherstellung. Die Freiheit der Menschen, ihr Leben selbst zu gestalten, war ihnen wichtiger als Wirtschaftserfolg. Daß die Marktwirtschaft indessen beides verbindet, hat Alexander Rüstow als einen „ganz unwahrscheinlichen und unverdienten Glücksfall“ gepriesen. So sollte im Sinne der Betonung der Freiheit „wirkliche Sozialpolitik gleichbedeutend mit einer Politik des Abbaus des Proletariats“ (Röpke) sein. Unselbständigen Menschen sei zu helfen, selbständig zu werden.

Den Schlußstein des Ideengebäudes der Gründerväter bildet die wesentlich dem Christentum entstammende und sich hauptsächlich in der Familie herausbildende Moral, die in den Menschen fest verwurzelt sein muß, wenn sie in das Berufsleben treten. Namentlich Röpke hat immer wieder dargelegt, daß die Welt der Wirtschaft Moral braucht – und verbraucht. Man kann bei fehlender persönlicher Integrität mit Gesetzen gewiß viel regeln, doch findige Menschen, die es zur Genüge gibt, finden viel zu oft Wege, um die Gesetze zu umgehen. Weil es sich so verhält, war es den Marktwirtschaftsbegründern ein Anliegen, daß die Menschen nicht nur den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gut und Böse kennen, sondern sie auch von innen heraus motiviert sind, den moralisch richtigen Weg zu gehen.

Gegenwärtig läßt sich indessen allerorten eine Tendenz zur Ersetzung von intrinsischer, das heißt aus dem Inneren des Menschen kommender Motivation durch externe, meistens pekuniäre Anreize beobachten. Allerdings spielen heute moralische Regeln, weder verinnerlichte noch durch äußere Anreize bewirkte, oft überhaupt keine Rolle mehr.

Bereits Röpke befürchtete, daß „eine Nation die Barbareninvasion aus ihrem eigenen Schoße zeugen kann“. Im Gefolge des Aufruhrs der Achtundsechziger haben wir es heutzutage offensichtlich mit einer solchen Barbareninvasion zu tun. Friedrich A. von Hayek sprach von „nicht-domestizierten Wilden“, die sich entfremdet nennen von einer moralischen Ordnung, die sie nie kennengelernt haben. Viele, die heute einer unbeschränkten Freiheit das Wort reden und vor allem – oft mit Gewalt – gegen Reglementierungen anrennen, sind nicht zuvor von den Zwängen unserer tradierten Kultur entzivilisiert worden; sie wurden vielmehr nie von ebendieser Kultur diszipliniert.

Die Gründerväter haben immer wieder dargelegt, daß Freiheit nur als eine von strengen Normen geregelte Freiheit fruchtbar ist. Die einem fairen wirtschaftlichen Wettbewerb zugrunde liegende Freiheit wurde nur möglich – so von Hayek – „durch die allmähliche Evolution der Disziplin der Zivilisation, die gleichzeitig die Disziplin der Freiheit ist“. Eine Gesellschaft in regelgebundener Freiheit stellt jedoch – historisch betrachtet – eher die Ausnahme als die Regel dar. „Das Chaos ist“, schreibt Arnold Gehlen, „natürlich, der Kosmos ist göttlich und gefährdet.“ Viel zu selten zieht bei den zu erziehenden Jugendlichen – vor allem in den Schulen – das Kultivierte und Anspruchsvolle hinauf. Viel zu oft findet das Beispiel des Ungeformten und Primitiven Nachahmer.

 

An der erwähnten Barbareninvasion aus dem eigenen Schoß sind auch und nicht zuletzt scheinbar aufgeschlossen-liberale Politiker mitschuldig: Sie schmeicheln ihren Wählern und bescheinigen gerade denjenigen besonderes Urteilsvermögen, die unsere moralische Ordnung nicht nur kritisieren, sondern vehement ablehnen. Es verbreitet sich die Ansicht, daß Menschen, die sich offen amoralisch verhalten, als ehrlicher einzustufen seien als Personen, die ihre Unmoral zu verbergen suchen und heucheln. Aber diese Rangordnung der Ehrlichkeit ist im allgemeinen abzulehnen. Der Heuchler weiß wenigstens, was moralisch richtig ist, wohingegen der Amoralist ethisch wertblind ist. Für Rüstow handelte es sich bei der „gewöhnlichen Heuchelei“ um eine „oft fast instinktive Verbeugung des Lasters vor der Tugend“.

Der christliche Personalismus hat nichts zu tun mit ökonomistischem Egoismus und Individualismus, der soziale Auflösung zeitigt. Er äußert sich in einer fruchtbaren Balance zwischen freier Lebensgestaltung und Integration in eine normgeleitete Gemeinschaft.

Die Gründerväter haben sich auch über die Herkunft der Moral, die der von ihnen entworfenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zugrunde liegen sollte, Gedanken gemacht. Für sie stand fest, daß das aus dem Judentum hervorgegangene Christentum die zentrale moralische Kraft der abendländischen Völker darstellt. Ihnen ging es nicht einfach um Religion, um Rückbindung an eine göttliche Macht, sondern um jenen Personalismus, der ein zentrales Merkmal der christlichen Ethik ist und Eigenverantwortung bedeutet.

Dieser Personalismus steht im Gegensatz zum starren pharaonischen Menschen- und Gesellschaftsbild, das im neuzeitlichen nationalen wie internationalen Sozialismus mit katastrophalen Folgen wieder auflebte. Der christliche Personalismus hat nichts zu tun mit jenem ökonomistischen Egoismus und Individualismus, der soziale Auflösung zeitigt. Er äußert sich in einer fruchtbaren Balance zwischen freiheitlichen und bindenden Kräften, zwischen freier Lebensgestaltung und Integration in eine normgeleitete und gerade deshalb sinnstiftende Gemeinschaft.

Doch immer weniger Menschen sind davon überzeugt, daß Freiheit und Bindung, Optionen und Ligaturen das Lebensglück ausmachen. Zudem ist die Zahl der Menschen kleiner geworden, die noch darauf setzen, daß die sich nur dem Privatrecht und tradierter Moral fügenden Prozesse spontaner Selbstregelung am ehesten allseits erwünschte Ergebnisse hervorbringen. Der von Franz Böhm beschriebenen „Privatrechtsgesellschaft“ reden immer weniger Menschen das Wort. Sie wird gar als kalter Nachtwächterstaat gebrandmarkt.

Angesichts der sich mehrenden unerfreulichen Zustände ist zu hoffen, daß es zu einer klugen, zivilisierten Revolte der echten Eliten kommt. Die „Aristokraten des Gemeinsinns“ (Röpke), die es etwa in der Familie, in der Kirche, in den kleinen Vereinen wie in den großen Verbänden und auch Parteien ja immer noch gibt, könnten das Blatt wenden. Es muß alles getan werden, damit sich keine defaitistische Stimmung verbreitet. Für eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft ist es nämlich nie zu spät. Konrad Adenauer wußte das, als er am Ende seiner Kanzlerschaft einmal sagte: „Es ist immer Zeit für einen neuen Anfang!“

 

Prof. Dr. Dr. habil. Franz Kromka, 65, ist seit 1988 Professor für Soziologie an der Universität Hohenheim. Er veröffentlichte neun Bücher und weit über 200 Zeitschriftenaufsätze und Buchbeiträge. Zuletzt erschien sein Buch „Markt und Moral. Neuentdeckung der Gründerväter“ (Lichtschlag, 2008).

Foto: Der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland (1949–1963) und Schöpfer des „Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, im Direktionszimmer von VW Wolfsburg; Durchblick zur Werkhalle; im Bild auf dem Aktenschrank Wilhelm Röpke: Die Begründer unserer Wirtschaftsordnung würden sich über die Zunahme von Maßlosigkeit, Korruption und Verantwortungslosigkeit im heutigen Wirtschaftsgeschehen nicht wundern. Immer wieder haben sie dargelegt, daß es ohne eine feste Moral, die sich „jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Röpke) herausbildet und dem Christentum entspringt, nur räuberkapitalistische Verhältnisse und soziale Zerrüttung gibt.

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