© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/10 29. Januar 2010

Zeithistorische Wesensschau
Hermann Graml ganz volkspädagogisch: Adolf Hitler und England im Periskop eines Pensionisten des Münchner Instituts für Zeitgeschichte
Kevin Uhlig

Die Szene gehört zum eisernen Bestand unserer Anekdotenschatzkiste aus den NS-Jahren. Um die Mittagsstunde des 3. September 1939 wird in der Berliner Voßstraße zur Gewißheit, daß Großbritannien Deutschland gegen alle Erwartung den Krieg erklärt hat, und ein gehörig konsternierter Reichskanzler Adolf Hitler fragt in die ratlose Runde seiner Getreuen: „Was nun?“

Der zuletzt zum Inventar des Münchner Instituts für Zeitgeschichte zählende Hermann Graml, Jahrgang 1928, seit langem schon schreibfreudiger Pensionist, scheint sein jüngstes Werk „Hitler und England“ allein zur Entkräftung dieser, durch Paul Schmidt, den Chefdolmetscher des Reichskanzlers, überlieferten Momentaufnahme verfaßt zu haben. Denn es bedarf keiner großen Interpretationskunst, um aus Schmidts Zeugnis herauszulesen, daß Hitler nicht nur keinen Krieg mit Großbritannien wollte, sondern, schon gar nicht um des durch eine „Polizeiaktion“ zu erledigenden, größenwahnsinnigen „Saisonstaates“ Polen willen, einen „Weltkrieg“.

Deshalb schrumpft Schmidts Bericht in einer verschwurbelten Fußnote Gramls zur „Dramatisierung einer nicht recht erfaßbaren Szene“. In einem ähnlichen Nebel pflegte schon Andreas Hillgruber Dokumente verschwinden zu lassen, die ihm bei seiner vermeintlich konzisen Konstruktion von „Hitlers Strategie“ nicht in den Kram paßten.

Wie dem auch sei: An der „Kriegslust“, an der „atavistischen Begierde nach Krieg“, die dem Führer der NSDAP eigen gewesen sei, die den „aggressiven Expansionismus“ als „Wesenskern“ des ganzen nationalsozialistischen Regimes ausgemacht habe, will Graml wie an einem Dogma nicht rütteln. Seine etwas an Rudolf Steiner und dessen exklusive Einsichten in „höhere Welten“ erinnernde, peinigend ahistorische „Wesensschau“ zur Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs ist daher bemüht nachzuweisen, daß die Reichsführung in ihrer Konfrontation mit der Warschauer Militärclique die Möglichkeit eines Krieges gegen Großbritannien und Frankreich sehr wohl in Kauf genommen habe.

In den entscheidenden letzten Augustwochen 1939 sei es dem Kanzler daher nur darum gegangen, ein „zweites München“ zu verhindern und jeden britischen Kompromißvorschlag abzublocken. Um eine derartige „Konsequenz“ vorgeblich destruktiver deutscher Diplomatie zu plausibilisieren, behauptet der von allen volkspädagogischen Erinnyen gehetzte Graml gar – gegen alle verfügbaren Quellen –, das sich zum Marsch auf Berlin aufputschende Polen sei bis zum letzten Augenblick verhandlungsbereit gewesen.

Gegen den großen „Rest“ des Essays läßt sich hingegen wenig einwenden, weil er nichts Neues zu dem gut erforschten England-Bild Hitlers seit dessen politisch-publizistischen Anfängen bietet. Auch durch Gramls verstärkte Heranziehung von Goebbels-Zitaten läßt sich dem kein unbekannter Aspekt abpressen. Als wissenschaftlich extrem unbefriedigend, ja unseriös, ist allenfalls zu vermerken, daß „England“ nach 1933 so monolithisch erscheint, wie es aus Adolf Hitlers Perspektive kaum wahrgenommen wurde. Denn bezeichnend ist, daß man den Namen Winston Churchill mit der Lupe suchen muß, immerhin das Haupt der britischen „Anti-Appeaser“ und jemand, der – wahrhaft „atavistisch“ –  so brutal wie rücksichtslos bereits als Kind „immer Krieg“ (Rolf Hochhuth) wollte.

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