© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/10 29. Januar 2010

Hochschulreform
Vom Elend der „Bologna“-Universität
von Harald Seubert

Inflationär und geistlos ist die Rede von Bildung. Ein Begriff ist hinter dem Wort kaum zu erkennen. Nach wie vor kursiert die Chimäre eines Aufstiegs, der mehr oder minder kausal vom Bildungsstand abhänge. Die Folge ist ein gespenstisches Nachleben des alten sozialdemokratischen Ideals von Bildungspolitik als einer Form von Sozialpolitik.

Solche Leere bringt Unbehagen hervor: Wohltuend an den jüngsten Studentenprotesten ist eine Zielgenauigkeit, wie man sie früher nicht kannte. Es fehlen die früher mantraartig erhobenen Forderungen nach „Feminisierung“ und „Demokratisierung“ des Studiums. Den Studenten war es, alles in allem, im Herbst 2009 um sich selbst zu tun, mit dem berechtigen Bewußtsein, daß die Universitäten ein Ort sind, der die Gesellschaft im ganzen betrifft. Die Irrationalität und das Vabanquespiel der „Reform“ ist nur die Kehrseite davon, daß niemand Letztverantwortung trägt. Nach außen exerziert man; nach innen äußert sich Unbehagen. Pointierungslos öde, ohne jeden Eros, ohne eigenständige Handschriften sind dann die entsprechenden Studiengänge.

Unübersehbar ist es, daß ein Ungeist von 1968 aus der Bologna-Reform weht. Seinerzeit wurde beständig das unheilige Geschwätz von der „gesellschaftlichen Relevanz“ wiederholt. Die Räte (also die „Sowjets“) bestimmten, welcher Lehrende Relevantes leistete, danach bemaßen sich ihm zugewiesene Mittel oder die Möglichkeit, überhaupt existieren zu können. Bologna ist aus dem Ungeist eines Ökonomismus hervorgegangen, der dieselbe Relevanzforderung stellt – und nie etwas von zweckfreier geistiger Vertiefung, von Muße gehört hat.

Man könnte Bücher über die Psychopathologien der Reformer schreiben: Ein innerlicher Neid auf Professoren und freie Geister alten Typus, das unschöne Ressentiment, aus dem differenzloser Egalitarismus sich nicht selten speist, würden darin eine Rolle spielen.

Allerdings darf man sich nicht umgekehrt in der Illusion wiegen, bis zu der Bologna-Reform habe es eine weitgehend intakte Fortentwicklung der Humboldt­schen Universität gegeben. So tiefgreifend die Zäsur ist, so berechtigt die Frage wäre, ob die derzeitige Universität noch dieselbe Institution, ob sie überhaupt Universität ist – der Erosionsprozeß geht sehr viel weiter zurück. Die Massenuniversität war mit Humboldtschen Idealen nicht mehr zu handhaben. Daß jeder Begriff von Elite seit den sechziger Jahren unter Ideologieverdacht gestellt und die Curricula in den Geistes- (nun: „Gesellschafts- und Sozial“-) wissenschaften ideologisch aufgeladen und zeitgeistig neu gewendet wurden, ist die Voraussetzung der jetzigen Reformen.

Als ich vor mehr als zwanzig Jahren zu studieren begann, waren die Seminare (vor allem in Germanistik) von einer trägen Masse bevölkert. Marxistische Gruppen trieben ihre öde Unterwanderung, ein toxischer Bodensatz, der den Schlaf der Vielen nicht wesentlich unterbrach. Dennoch konnten einzelne Professoren durch das Niveau und die Thematik ihrer Lehre aus der Tristesse ausbrechen und einen Kreis bester Studenten um sich sammeln. Ohne alle Lehrevaluationen bildete sich Exzellenz aus, ohne daß man auf die Idee gekommen wäre, es so zu nennen. Solche Inseln werden par ordre du mufti in der durchgestylten Modul-Universität unmöglich gemacht.

Meine Bemerkungen beziehen sich auf das Feld der Geistes-, heute: Kulturwissenschaften. Wie die Folgen der neuen Universität für Mathematik, Technik- und Naturwissenschaften ausfallen, müssen andere beurteilen. Allerdings dürfte es gute Gründe dafür geben, daß hochrenommierte deutsche Abschlüsse wie das juristische oder medizinische Staatsexamen nicht dem Bachelor und Master geopfert werden.

Die Humboldtsche Universität war eine Idee, Teil des geistigen Deutschland, nicht einfach eine historisch vergangene Realität. Als solche ist sie nicht tot, wie ein früherer Bundesbildungsminister tönte; sie bleibt weltweit faszinierend. Sie war ein wesentliches Vorbild für die Ivy-League-Universitäten in den USA, in Verbindung mit einem verläßlichen Kapitalstock.

Eine Universitätsreform, die nicht nur in die Phrase verliebt wäre, müßte heute bedeuten, diese Idee für den Beginn des 21. Jahrhunderts – in Verbindung mit den Effizienzanforderungen, die sich stellen – neu zu buchstabieren. Der unlösliche Zusammenhang zwischen Forschung und Lehre wie der von Humboldt oder Schleiermacher vertretene Gedanke, daß Lehrende und Lernende, anders als in der Schule, nicht füreinander da sind, sondern für die Wissenschaft, die als entstehende, werdende gelehrt, nicht als Produkt verwaltet wird, gäbe dabei einen unverlierbaren Maßstab ab.

Die Realität sieht anders aus, auch in der Forschung: Cluster folgen immer gleichen „kulturwissenschaftlichen“ Thesen: „Gender“, „Monotheistische Gewalt“, „Transdifferenzialität“. Das geistige Profil ist oft marginal und immens repetitiv; gesplittete Einzelunternehmen, die kaum miteinander kommunizieren können, werden unter diesem Dach versammelt.

Jenem postmodernen „geistigen Tierreich“ (Hegel) des Relativen, aus dem nur ausgeschlossen ist, was dem Zeitgeist nicht entspricht, entsprechen neue PR-Strategien: Universitäten sind in erschreckendem Maße auf Events, auf schönen Campus, auf den „Spaß“ der Corporate Identities ausgerichtet. Ständig jagen sich in ihren Darstellungen Erfolgsmeldungen, so daß die geduldige Versenkung in genuin wissenschaftliche Arbeit – im Sinne von Max Webers „Wissenschaft als Beruf“ – eher stören dürfte.

Wenn die Linie der gegenwärtigen Reform weiter exerziert wird, werden sich nachfolgenden Generationen grundlegende Fragen nicht mehr stellen können. Es droht die reale Gefahr einer Mainstream-Uniformität. In dieses Bild fügt sich ein Gratifikations- und Preisvergabesystem für alles und jedes ein: kurzatmig, niedrig dotiert, zu Hektik und Windmacherei Anlaß gebend, aber nicht zur Verfolgung eines eigenständigen Forschungs- und Denkwegs. Man gutachtet permanent für irgend jemanden und irgend etwas – und stellt mit Befremden fest, daß ausgezeichnete junge Leute immer wieder übergangen werden, der schleppende Mainstream hingegen Gratifikationen sammelt.

Die Kenntnislosigkeit von Bachelor-Studenten ist kaum gravierender als die ehemaliger Magister-Anwärter. Es fällt aber eine Verwirrung und Verwischung der Genera auf: Schulen spielen durch überbordende Projektarbeit und durch Seminarsimulationen bereits Universität, Universitäten sollen elementarste Wissensvermittlungen kompensieren, die an den Schulen versäumt wurden. Eine wirkliche Reform würde damit beginnen, daß der Schuster bei seinem Leisten bleibt. Dies war übrigens auch eine Voraussetzung für die Durchlässigkeit zwischen Schule und Universität in der Humboldtschen Idee.

Die über-curricularisierten Studiengänge verführen zu einem gewiß nicht: zu freiem Studium, intensiver Lektüre, der Ermittlung eines eigenen intellektuellen Weges. Das Bachelor- und Master-Leben besteht zu einem guten Teil aus Selbstorganisation. Sich von einer Vorlesung oder einem Gedankengang faszinieren zu lassen, dazu ist kaum Zeit. Der Witz: „Oh, ich habe ein Buch gelesen, das ich nicht hätte lesen müssen. Was mache ich jetzt?“ – ist in Zeiten der Universität à la Bologna nicht mehr übertrieben.

So zeigt sich das Symptom, das allenthalben in Deutschland begegnet: hektischer Stillstand; Bewegung – für nichts. Er dürfte sich auch in den persönlichen Biographien abzeichnen: Wenn Eigenständigkeit sich auf die Organisation eines zugegebenermaßen kompliziert verzettelten Stunden- und Lektüreplans, auf Zählen der Worte und Seiten in den Abschlußarbeiten reduziert, bleibt der Student Schüler. Er erwirbt formale Qualifikationen, vermeintlich paßgenau auf „Internationalität“ und Arbeitsmarkt abgestimmt – ob andere Länder, ob der Arbeitsmarkt dies bis heute begriffen haben, ist eine andere Frage. Es wird ein formaler akademischer Abschluß vermittelt, nicht zuletzt an Personen, die intellektuell und charakterlich dazu das Zeug nicht haben – und dies hat keineswegs mit der sozialen Herkunft zu tun. Den Begabtesten aller Schichten und Herkünfte den Weg zum akademischen Studium zu öffnen, muß sich für eine Kulturnation von selbst verstehen.

Nach all dem sollte man nicht mehr viele Worte verlieren über den Quantifizierungswahn, der sich in Akkreditierungen von Studiengängen zeigt, in Projekt- und Evaluierungs-Hyperbeln, in denen sich auch die Gutachter wechselseitig evaluieren – ein trauriges, ein teils groteskes Bild. Wollte man die Verhinderung von Forschung und kreativen Leistungen systematisch organisieren, so gäbe es kaum geeignetere Instrumentarien. Sie lassen sich mit dem Goethe zugeschriebenen Bonmot erfassen: Einer ist des anderen Krankenwärter. Hier zeigt sich eine Tendenz zur Selbstentmündigung, und vor allem wird sichtbar, daß sich die deutsche Universität selbst nicht mehr traut. Hegelisch gesprochen: Anerkennung findet kaum mehr statt, was nicht wunder nehmen muß bei einer zur Unkenntlichkeit zerrissenen Inflation des Professorentitels (durch das Advancement Nicht-Habilitierter seit den sechziger Jahren), der gänzlich unbedachten Projektion von Juniorprofessuren auf das alte System der Habilitation und vor allem einem Relativismus der Konzeptionen und Ansätze, in dem geteilte Qualitätsmaßstäbe bei gegensätzlichen Auffassungen im einzelnen immer seltener werden. Ebendies macht aber das Corpus einer Universität erst aus.

Dabei soll keineswegs bestritten werden, daß dort, wo Bachelor- und Master-Studiengänge von der Sache her konzipiert sind, sie auch Chancen eröffnen können: nicht zuletzt für Begabte die Möglichkeit, zu einem rascheren Doktoratsstudium auf der Grundlage des Bachelor zu kommen. Dies setzt Durchlässigkeiten voraus, vor allem aber dies, daß die Sache und nicht die Bürokratie bestimmend sind.

Gibt es Auswege? Einerseits kann und müßte das nun angerichtete Desaster durch intelligenten Umgang von Lehrenden und Lernenden mit Geist und Grandezza ausgelegt werden. Die Spielräume schwinden freilich.

Zum anderen könnten Politiker, wenn die Phraseologie der „Bildung“ für sie noch einen Sinn hätte, sehr schnell weniges und doch Grundlegendes ändern: etwa die bindende Verpflichtung zu einer Wiederbesetzung von Professuren zum Zeitpunkt der Emeritierung des Vorgängers. Dies ist keineswegs Usus: Vakanzen können sich, notdürftig vertreten, über Jahre hinziehen. Bejubelt wird die Einsparung um ein weiteres Semester. Der Preis ist, daß die Tradition eines Faches an einem Ort abreißt, daß auch renommierte Studiengänge ins Nichts versinken.

Stiftungslehrstühle sind mittlerweile in Ökonomie und Naturwissenschaften dabei sich zu etablieren. In den Geisteswissenschaften fehlen auf beiden Seiten die Kommunikationswege. Gewiß ist die Anwendungsfrage nicht derart unmittelbar zu beantworten wie im Fall von ingenieurswissenschaftlicher Grundlagenforschung. Dennoch ist es dringend erforderlich, klugen Bildungspolitikern, finanzkräftigen Unternehmern, einem gemeinwohlverantwortlichen Bürgertum klarzumachen, welch entscheidende Bedeutung die geistige Grundlegung für einen Staat und eine Gesellschaft hat. Geistes- und Sozialwissenschaften sind indes durch abstruse Theoriebildung und nachfolgende Selbstmarginalisierung in zunehmend abgeschlossene Nischen und Specialissima nicht unbeteiligt daran, daß ihre fundamentale Bedeutung nicht sichtbar wird.

Doch zuerst und zuletzt bedarf es einer Wiedergewinnung der Idee der Universität. Dabei dürfte auch der Initiative zu Privatuniversitäten eine wichtige Rolle zukommen. Sie könnten – und vielleicht sie allein, auch wenn sie nicht als Volluniversitäten beginnen – jenen Stab wieder aufnehmen, der leichtfertig weggeworfen wurde. Bürgerlicher Konservatismus ist gerade hier gefordert! Wenn es damit ernst ist, bedarf es freilich einer stabilen Grundausstattung, einer finanziellen Solidität, die sich abhebt von einer Vielzahl von „Universities“, die den englischen Begriff gebrauchen, weil ihnen der deutsche von Rechts wegen nicht zusteht.

Dabei gibt es schon einige Leuchttürme – die Hertie School of Governance oder die Bucerius Law School wären zu nennen –, Analoges in einem dezidiert geisteswissenschaftlichen Zuschnitt fehlt bislang. Zu denken wäre an die Rekrutierung eines Kollegiums bester Köpfe der mittleren Generation, die aus welchen Gründen auch immer die gegenwärtigen Muster verlassen und Maßstabsetzendes begründen möchten – und die die Konsequenz besitzen, die Deutungshoheit einer Generation zu brechen, die Fatales angerichtet hat!

An solchen Köpfen ist kein Mangel, nur sind nicht sie es, die gemeinhin im Licht stehen. Die Zeit drängt.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, studierte Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaften und Geschichte; langjährige Lehrtätigkeiten an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Halle-Wittenberg. Seit 2006 ist er Ordinarius für Kulturphilosophie und Ideengeschichte des deutschen Sprachraums an der Universität Posen. Seit 1993 zahlreiche Gastdozenturen und Gastprofessuren in Süd- und Osteuropa. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Konservatismus („Was im Angesicht des Ewigen besteht“, JF 38/09).

Foto: Universitätsbibliothek (in Graz): Den Begabtesten aller Schichten und Herkünfte den Weg zum akademischen Studium zu öffnen, muß sich für eine Kulturnation von selbst verstehen.

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