© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/10 05. Februar 2010

Der Balzac des deutschen Ostens
Hermann Sudermanns Autobiographie in einer leider unkommentierten Neuauflage
Tim Koehler

Als naturalistischer Bühnenautor war Hermann Sudermann in den 1890er Jahren so erfolgreich, daß die Tantiemen ihm, dem 1857 geborenen Sohn eines am Rande des Konkurses wankenden Bierbrauers, einen schier märchenhaften Aufstieg ermöglichten – Villa im Grunewald und Schloß in der Mark Brandenburg inbegriffen. Das Geld reichte auch, als der Dramatiker nach 1900 aus der Mode kam und Auflagenerfolge des Epikers sich in Grenzen hielten – abgesehen von dem bereits 1887 veröffentlichten Renner „Frau Sorge“, der 1915 das 150. Tausend erreichte.

Aber wie Theodor Fontane erst spät in Fahrt kam, so verdiente sich auch Sudermann seinen Ruf als „Balzac des deutschen Ostens“ (Paul Fechter) nach dem 60. Geburtstag, mit den „Litauischen Geschichten“ (1917), mit dem aus Studienerfahrungen an der Albertina gespeisten dickleibig-farbigen „Roman aus der Bismarckzeit“ („Der tolle Professor“, 1926) und mit seiner Autobiographie „Das Bilderbuch meiner Jugend“, die 1922 erschien (Startauflage: 40.000), als seine memelländische Kindheitswelt, der Geburtsort Matzicken und das nahe Heydekrug, infolge des Versailler Diktats vom Deutschen Reich abgetrennt war  und unmittelbar vor der bis 1939 währenden litauischen Okkupation stand.

Das „Bilderbuch“ zeigt den Autor auf der Höhe seiner Prosakunst, erzählt realistisch von der Kleine-Leute-Durchbeißerei des Elternhauses, von Tilsiter und Elbinger Schulallotria, der studentischen Freiheit in Königsberg und den Anfängen als linksliberaler Journalist im Berlin. Das liest sich auch nach neunzig Jahren noch wie „frisch gepreßt“. Ob heute jedoch ein erneuter Nachdruck eines Buches notwendig ist, das zur antiquarischen Dutzendware zählt?

Irritierend wirkt schon, daß Sudermanns Widmung für Oskar Vogt („in Freundschaft“), den weltberühmten Berliner Hirnforscher, weggefallen ist, dem 1924 die cerebralen Reste Lenins anvertraut wurden, damit er demonstriere, wie sich das bolschewistische Bewußtsein naturnotwendig aus dem neuronalen Synapsen-Sein ihrers genialen Urhebers ergeben habe. Was verband Sudermann, zeitweiliger Sympathisant der Sozialdemokraten, mit dem Sowjetfreund Vogt? Eine von vielen Fragen, die der Text nicht von selbst beantwortet. Besser legitimiert wäre das Unternehmen also gewesen, wenn der Verlag sich entschlossen hätte, dieses Glanzstück ostdeutscher Prosa mit einem ausführlichen literaturhistorischen Nachwort zu versehen, das über den heute fast vergessenen Sudermann und den zeitgeschichtlichen Kontext des Werkes informiert.

Hermann Sudermann: Das Bilderbuch meiner Jugend. Roman einer Zeit. Lindenbaum Verlag, Beltheim-Schnellbach 2009, gebunden, 331 Seiten, 19,80 Euro

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