© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/10 12. Februar 2010

Wer erzieht endlich einmal die Erzieher?
Der Bildungsexperte Joseph Kraus nimmt die umgreifende „Totalität eines Gleichheitszwangs“ im deutschen Schulwesen aufs Korn
Herdis Helgenberger

Ein Schulrat, der im Gymnasium einer Kleinstadt zur Inspektionsvisite erwartet wird, bleibt unterwegs mit seinem Auto liegen. Zufällig geht ein Schuljunge vorüber, der den unglücklichen Reisenden freundlich fragt, ob er ihm behilflich sein könne. In seiner Not läßt der Schulbeamte den Jungen gewähren, der den Wagen tatsächlich nach einigen geübten Griffen wieder zum Starten bringt. Neugierig geworden, fragt der Schulrat seinen jugendlichen Samariter, warum er zu dieser Tageszeit nicht in der Schule sei. „Nun“, entgegnet der Junge, „heute kommt der Schulrat zu Besuch und mein Lehrer hat mich nach Hause geschickt, weil ich der Dümmste der Klasse bin.“

Eine solche Geschichte aus guten alten Schultagen wird sich in Deutschland kaum mehr zutragen. Lehrergewerkschaften, Bildungspolitiker und Entwicklungspsychologen haben in den letzten Jahrzehnten höchst effizient dafür gesorgt, daß Pädagogen das landläufige Verdikt „dumm“ in der Beurteilung eines Schülers scheuen wie der Teufel das Weihwasser.

„Educational correctness“ nennt Josef Kraus, seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, folgerichtig – wenn auch formal inkonsequent angesichts seiner Schelte des anglisierten Neudeutschs der Eurobürokraten – die Tendenz, zugunsten einer blinden Fortschrittsideologie absoluter Vereinheitlichung die Prüfungsstandards an Schulen auf das Niveau unteren Durchschnitts abzusenken, um das hartnäckig auftretende Problem geistiger Schlichtheit auf dem Wege angepaßter Benotung („Erleichterungspädagogik“) zu lösen. Individuelle Begabtheit stört den reibungslosen Betrieb der Angepaßten – vorausgesetzt, sie ist in der Abwesenheit intellektueller Anreize überhaupt feststellbar.

Klassische humanistische Bildungstradition, in deren Mittelpunkt die Befähigung des Menschen steht, sich selbst und sein Verhältnis zur Welt zu reflektieren, frei als Individuum zu werden, indem er zu einer gelassenen Distanz zu den äußeren Dingen findet, droht zu verkümmern unter der Totalität eines Gleichheitszwangs, den eine quotengläubige Pädagogenelite Rektoren und Lehrern oktroyiert. Die Antwort auf den „curricularen Nihilismus“ der in den siebziger Jahren in Westdeutschland angestoßenen Bildungsreformen zeichnet sich ab in den brüchigen Biographien einer Heerschar halbgebildeter Individualisten, die die dauerhafte Arbeits- und Leistungsverweigerung zum Distinktionsmerkmal ihrer Generation erhoben hat.

Der rigide Konformismus einer Schulwelt, in der herausragende Intelligenz wie unverkennbare Dummheit als Fehlleistung verdächtigt werden, entstellt den ursprünglichen Auftrag von Erziehung: Die Erzieher verlernen zu erziehen; Demokratie verwildert zum „Diktat des Durchschnitts“, der das prinzipiell zweckfreie Gut Bildung zum bloßen Objekt ökonomistischer Erwägungen eines ausufernden Wohlfahrtsstaats herabsetzt. Der mündige Bürger wird zum Leistungsempfänger degradiert, der von anderen lernt, die egoistische Bedürfnisbefriedigung auf Kosten des Gemeinwohls zur moralischen Bedingung seines Lebens zu machen. Der paternalistische Staat auf der anderen Seite will die erkaufte Untertanenmentalität nicht gefährden, indem er sich statt Jobcenter-Kunden stolze, eigenverantwortliche Bürger heranzieht, die ihm als notorische Querulanten der politischen Verhältnisse lästig werden können.

Der mehrheitlich links stehenden politischen Funktionselite ist es gelungen, den komplexen Begriff der Gerechtigkeit zu einer engstirnigen Auffassung von der Gesellschaft als Ansammlung Gleichbefähigter aufzuweichen. Erziehung und Bildung, für die Mächtigen schon immer relevant als wohlfeile Instrumente der Massenmanipulation, verlieren ihre politische Neutralität in dem Moment, wo die Grenze zwischen wertfreier Lehre und ideologischer Indoktrination verwischt.

So identifiziert Kraus – als langjähriger Rektor eines Gymnasiums ist er selbst erfahrener Pädagoge – den Geschichtsunterricht als „verlängerten Arm“ einer deutschen Geschichtspolitik, die das Gedenken an den Holocaust als pseudoreligiöses Sündenbekenntnis und Ausweis korrekter Weltanschauung behandelt. Folglich wird der Vermittlung der nationalsozialistischen Epoche in den Lehrplänen überproportional große Aufmerksamkeit gewidmet, „völlig unterbelichtet“ dagegen sind thematische Blöcke wie die „Geschichte Mittel- und Osteuropas“ und die kommunistische Gewaltherrschaft. „Ist die Bildung noch zu retten?“ fragt Josef Kraus’ Buch und liefert die Antwort gleich mit: Einzig die Rückbesinnung auf konservative Traditionen und Werthaltungen, auf das historisch Bewährte zeigt den Weg aus selbstverschuldeter Krise.

Kraus‘ „Streitschrift“ bietet eine Bestandsanalyse der egalitaristischen Bildungsreformen, an deren Ende ein tiefgreifender Gesellschaftswandel stehen könnte, den eine politisch erstarkte, mit antibürgerlichen Reflexen behaftete Kaste von Salonsozialisten gegen jede menschliche Vernunft durchsetzen will. Wer erzieht die Erzieher? Mit der Beantwortung dieser Frage steht und fällt das Maß an Leistungsfähigkeit und Verantwortung, das die junge deutsche Elite zu erbringen bereit ist.

Joseph Kraus: Ist die Bildung noch zu retten? Eine Streitschrift. Herbig Verlag, München 2009, gebunden, 242 Seiten, 16,96 Euro

Foto: Im Klassenzimmer herrscht zunehmend Leere: Engstirnige Auffassung von der Gesellschaft als Ansammlung Gleichbefähigter

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