© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/10 12. Februar 2010

Vernichtende Ergebnisse
Wolfgang Schaarschmidt präsentiert Neues über den anglo-amerikanischen Bombenangriff begann auf Dresden 1945
Hans-Joachim von Leesen

Es hat ihn nicht mehr losgelassen, was er als Junge im Februar 1945 in Dresden erlebt hat. Wie so mancher andere seines Alters wollte er mehr wissen über das Massaker, das in der sächsischen Landeshauptstadt an Frauen, Kindern und alten Leuten begangen wurde. Warum hat man die Menschen umgebracht? Wer waren die Verantwortlichen? Wie viele fielen dem Massenmord zum Opfer? Als seine berufliche Laufbahn als Arzt in der Nähe von Hamburg zu Ende ging, begann Wolfgang Schaarschmidt ein Geschichtsstudium, um das Handwerkszeug zu erwerben, mit exakten wissenschaftlichen Methoden den offenen Fragen nachzugehen – denn vieles, was seitdem über die Vorgänge veröffentlicht worden war, konnte einen kritischen Zeitgenossen keineswegs befriedigen.

In den nicht einmal drei Monaten, die zwischen den verheerenden Luftangriffen und der Besetzung Dresdens durch die Rote Armee lagen, war kaum genügend Zeit, die Ereignisse aufzuklären. Und die Sieger waren daran am wenigsten interessiert. Als zunächst in der sowjetisch besetzten Zone bzw. in der DDR Op-ferzahlen genannt wurden, benutzte man sie als Waffen im Kalten Krieg. Jahrzehnte später, nach der Wiedervereinigung, ging es nicht anders, nur daß jetzt die Zahlen auf wundersame Weise immer kleiner wurden.

Die allerniedrigste Zahl aber verlautbarte der Leiter der im November 2004 vom damaligen Dresdner Oberbürgermeister Ingolf Roßberg (FDP) eingesetzten Historikerkommission, Rolf-Dieter Müller vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam, längst vor dem Abschluß der Untersuchungen, nämlich im Oktober 2008. Jetzt sollte es nur noch 18.000, höchstens aber 25.000 Opfer der britischen und US-amerikanischen Luftangriffe gegeben haben. Die Geschichte der Angriffe müsse nun neu geschrieben werden, so Müller.

Vor allem bei den noch lebenden Zeitzeugen stießen die permanent sinkenden Totenzahlen auf Widerspruch, zumal der Verdacht aufkam, man wolle so den Auftrag des Dresdner Oberbürgermeister erfüllen, die Kommission solle „den Rechtskonservativen und neonationalistischen Kreisen“ den Wind aus den Segeln nehmen, da diese von höheren Verlusten ausgingen.

Nun ist die Kommission bereits seit mehr als fünf Jahren tätig. Öffentliche Gelder flossen reichlich. Der festgelegte Zeitpunkt für die Veröffentlichung Ende 2009 verstrich. Nun soll das Ergebnis „ganz bestimmt“ in der zweiten Märzhälfte 2010 veröffentlicht werden. Man darf gespannt sein, ob der Kommissionsabschlußbericht – wie seinerzeit angekündigt – ermitteln konnte, wie viele Flüchtlinge aus Schlesien sich tatsächlich zur Zeit des Angriffs in Dresden aufhielten.

Pünktlich zum 65. Jahrestag der Vernichtung Dresdens ist hingegen die gründliche Überarbeitung von Schaarschmidts Buch „Dresden 1945. Daten, Fakten, Opfer“ erschienen. Der Autor hat die erste Ausgabe grundlegend durch neu zutage getretene Quellen und aktuelle Zeugenaussagen ergänzt und Untersuchungen vertieft und gelangt dabei zu völlig anderen Ergebnissen als die offizielle Kommission. So ist das Buch nicht nur eine Neuausgabe geworden, sondern die bisher einzige Erwiderung zu den Kommissionserklärungen, die deren Vorsitzender Müller abgegeben hat.

So bestätigen sich Schaarschmidts bereits in der Erstausgabe seines Buches geäußerten Vermutungen, daß seinerzeit auf dem Altmarkt wesentlich mehr Tote verbrannt worden sind als bisher veröffentlicht. Man erfährt, daß Schiffsladungen mit Luftkriegsopfern auf dem Seeweg nach Meißen gebracht worden sind, um dort begraben zu werden. Von den ebenfalls nach Meißen transportierten Verwundeten sind etwa 200 gestorben und dort beerdigt. Neu ist auch die Feststellung, daß die englische Funküberwachung, die den Funkverkehr über Deutschland abhörte, geheime Funksprüche der Polizei auffing und entschlüsselte, in denen von „80.000 bis 100.000 Vermißtenanzeigen“ in Dresden die Rede war.

Schaarschmidt bewertet die Aussagen des damaligen Leiters der Abteilung Tote der Vermißtennachweiszentrale, Hanns Voigt, neu. Er nimmt sie ernst, saß doch Voigt in dem Zentrum, in dem alle Meldungen über Todesfälle zusammenliefen. Als Voigt von 80.000 bis 90.000 Toten sprach, wurde er von kommunistischer Seite rüde beschimpft, er sei ein „sauberer, von uns wegen faschistischer Hetze hinausgeschmissener Studienrat und Funktionär der Nazi-Partei“ gewesen. Seine Informationen wurden ignoriert. Schaarschmidt belegt, daß seine Auskünfte ernst zu nehmen seien, auch wenn die heutige amtliche Kommission – nicht anders als damals die Kommunisten – die von Voigt genannten Zahlen ignoriert. Vermutlich befürchtete man ebenfalls die Verleumdung als  „Faschisten“. Zudem war Voigt, wie Schaarschmidt herausfand, lediglich ein einfaches nominelles Mitglied der NSDAP und keinesfalls ein „Funktionär“.

Schaarschmidt bestreitet die Behauptung eines Mitglieds der Historikerkommission, es seien „nirgendwo Skelettreste oder Merkmale von Leichenbränden“ gefunden worden. Er hingegen vertritt die begründete Meinung, die systematische Suche nach Toten sei keineswegs abgeschlossen; vielmehr lägen noch zahlreiche Opfer unter den Trümmern. Er wird darin unter anderem bestätigt durch die Ankündigung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, er werde bei der aktuellen Gedenkveranstaltung voraussichtlich 14 in den letzten Jahren gefundene Tote beerdigen, darunter eine Mutter mit ihrem Kind, die erst im vergangenen Jahr bei Ausschachtungsarbeiten entdeckt worden waren und identifiziert werden konnten.

Der Öffentlichkeit wenig bekannt ist der Forschungsbericht des Dresdner Bürgers Gert Bürgel, der seit Jahren jedem Hinweis auf Tieffliegerangriffe nachgeht. 78 Berichte von Augenzeugen hat er ausgewertet, wobei sich herauskristallisiert hat, daß am 14. Februar vormittags drei bis vier US-amerikanische Jagdflugzeuge auf den Elbauen Jagd auf Flüchtlinge gemacht haben. Zahlreiche Zeitzeugenberichte stimmen in so vielen Einzelheiten überein, daß man sie nicht ignorieren kann, wie es die Kommission mit der Behauptung tut, es gebe darüber unter den amtlichen US-Unterlagen keine Belege. Schaarschmidt meint süffisant, daß eine solche Argumentation „in anderen Fällen der zeitgeschichtlichen Forschung einen nachhaltigen Aufschrei der Empörung hervorgerufen“ hätte.

Mit der Neuausgabe von Schaarschmidts Buch „Dresden 1945“ liegt die bisher fundierteste Untersuchung über die Opferzahlen der britischen und US-amerikanischen Luftangriffe drei Monate vor Kriegsende vor. Man darf gespannt sein, wie die Historikerkommission auf die in diesem Buch mitgeteilten Fakten antwortet – oder ob sie es sich leicht macht, indem sie sie ignoriert.

Wolfgang Schaarschmidt: Dresden 1945. Daten, Fakten, Opfer. Völlig überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe. Ares Verlag, Graz, 2010, gebunden, 370 Seiten, Abbildungen und Karten, 19,90 Euro

Fotos: Die südliche Altstadt Dresdens mit Prager Straße (Mitte) in Richtung Hauptbahnhof, Aufnahme von 1956: Die systematische Suche nach Toten ist bis heute noch nicht abgeschlossen, Leichenbergung auf dem Dresdner Altmarkt am 25. Februar 1945, noch zehn Tage nach dem Angriff brennen die Scheiterhaufen (Hintergrund): Wesentlich mehr Opfer als veröffentlicht

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