© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/10 12. Februar 2010

„Gehirn-Doping“
Naiver Optimismus
von Hans-Bernhard Wuermeling

Psychisch Kranke werden erfolgreich mit Medikamenten behandelt. Aber auch Gesunde greifen zu psychisch wirkenden Substanzen, um sich zu vergnügen – zum Beispiel zu Alkohol. Oder auch um der Realität zu entfliehen und ihr Glück in einer Scheinwelt zu suchen. In diesem Zusammenhang spricht man von Drogen, die wegen ihrer süchtig machenden Wirkung verpönt sind. Neuerdings greifen Gesunde aber auch zu Stoffen, mit denen sie ihre psychische Leistungsfähigkeit verbessern wollen – Methylphenidat oder Modafinil etwa.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung läßt deswegen in der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in Bad Neuen­ahr über „Potentiale und Risiken des pharmazeutischen Enhancement psychischer Eigenschaften“ nachdenken – auf deutsch heißt das, über Gehirn-Doping oder ganz einfach: über Pillen für besseres Denken. Die gibt es zwar noch nicht, jedenfalls nicht als wirklich wirksame und nebenwirkungsfreie Medikamente. Insofern geht es um ungelegte Eier. Aber der in den USA bereits weitverbreitete Gebrauch von keineswegs unschädlichen Wachmachern und Stimmungsaufhellern durch Gesunde nimmt auch hierzulande zu.

Nach einer von der DAK im vorigen Jahr veröffentlichten Umfrage unter dreitausend Arbeitnehmern konsumierten fünf Prozent von ihnen Substanzen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit, und zwei Prozent „dopten“ regelmäßig am Arbeitsplatz. Ob es ein Bedürfnis nach einem idealen Hirn-Doping-Medikament gibt, weswegen die Industrie sich bemüht, ein solches zu entwickeln und anzubieten, oder ob erst das Angebot der Pharmaindustrie die Nachfrage nach solchen Pillen hervorruft, sei dahingestellt.

Jedenfalls haben sieben Wissenschaftler nun drei Jahre Arbeit darauf verwendet, dem Auftrag des Ministeriums gerecht zu werden. Sie legten jetzt ein „Memorandum“ vor, abgedruckt im Novemberheft 2009 von Gehirn und Geist, dem Magazin für Psychologie und Hirnforschung. Das Magazin stellt die Autoren als „führende Experten“ vor; unter ihnen der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel und die in Münster lehrende Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert, die Mitglied des nationalen Ethikrates ist.

Zunächst holen sie, um es zu enttabuisieren, das Problem aus der „Schmuddelecke“ des Sport-Doping heraus, indem sie es umtaufen – oder unkenntlich machen: Neuro-Enhancement ist das neue Wort, (englisch von to enhance = aufwerten, mehren), meint aber nicht etwa die Vermehrung von Nervenzellen, sondern die Verbesserung ihrer Funktion im zentralen Nervensystem für die geistige Leistungsfähigkeit oder das seelische Befinden.

Mit einer solchen Umbenennung kann man von dem Gemeinten aber nicht einfach den Schmutz der Schmuddelecke abwaschen. Der besteht nämlich darin, daß man sich durch Tricks oder heimliches Manipulieren Wettbewerbsvorteile gegenüber seinen Konkurrenten ergaunert. Im Sport nennt man das unfaires Handeln. Die Fairneß gebietet nämlich, daß man sich an die (ausdrücklichen oder unausgesprochen selbstverständlichen) Regeln der betreffenden Sportart hält.

So gesehen ist Doping zunächst nur ein Regelverstoß, also ein Handeln in einem bestimmten sozialen Umfeld oder in einer bestimmten sozialen Situation und keineswegs etwa bereits an sich durch eine trickreiche Maßnahme, etwa die Einnahme eines Medikaments, gekennzeichnet. Beim Schießsport gilt zum Beispiel die Verwendung von Betablockern für eine ruhige Hand als Doping. Dem Scharfschützen jedoch, dem es bei einer Geiselbefreiung gelingen soll, den Geiselnehmer schonend unschädlich zu machen, die Geisel aber nicht zu verletzen, wird man kein Doping vorwerfen, wenn er sich mit ebensolchen Betablockern eine ruhige Hand verschafft.

Fairneß wird aber nicht nur im Sport verlangt, sondern auch im Wirtschaftsleben, bei allen möglichen Streitigkeiten und überhaupt überall da, wo Menschen miteinander agieren. Für alle gesellschaftlichen Beziehungen gibt es geschriebene oder ungeschriebene Regeln, gegen die zu verstoßen als unfair gilt, wenn man sich damit – gleichsam auf die krumme Tour – Wettbewerbsvorteile zu verschaffen sucht. Wäre Neuro-Enhancement ein solcher Regelverstoß? Sicher dann, wenn der Benutzer der Wunderpillen damit seine Konkurrenten einfach austrickst – oder sie indirekt zwingt, auch nach diesen Wunderpillen zu greifen, um überhaupt am Ball zu bleiben.

Insofern hat Neuro-Enhancement tatsächlich negative soziale Implikationen, doch werden diese von den Experten, die das Memorandum verfaßt haben, als beherrschbar angesehen, wenn nicht gar im Hinblick auf angebliche gesamtgesellschaftliche Erfolge des Neuro-Enhancement als nachrangig eingestuft.

Es ist aber weiter zu fragen, ob der Mensch nicht nur zur Fairneß anderen gegenüber verpflichtet ist, sondern auch gegenüber sich selbst. Die Frage ist schwerer zu beantworten als die nach den sozialen Gesichtspunkten. Die Bad Neuenahrer Experten gehen davon aus, daß es das Recht eines jeden entscheidungsfähigen Menschen sei, „über sein persönliches Wohlergehen, seinen Körper und seine Psyche selbst zu bestimmen“, und daß Einschränkungen dieser Freiheit, besonders juristische, begründungsbedürftig seien. Mit Einschränkungen, soweit sie in den Rechten anderer begründet werden, setzen sie sich auseinander. Die Frage aber, ob man sich selbst gegenüber fair handeln muß oder völlig frei ist, stellen sie nicht. Hier gibt es für sie anscheinend kein Regelsystem, gegen das man verstoßen könnte.

Offenbar meinen sie, vor sich selbst könne es jeder verantworten, mit allen Mitteln aus sich das äußerst Mögliche herauszuholen. Nun gibt es für das äußerst Mögliche einen schönen lateinischen Ausdruck: „ultimum potentiae“. Er geht auf Thomas von Aquin zurück, der damit „Tugend“ definiert, die eben darin bestehe, jenes äußerst Mögliche aus sich herauszuholen. Damit kann aber nicht gemeint sein, irgendeine spezielle Leistung zu optimieren, sondern die Gesamtleistung eines Menschen in Hinblick auf „das Gute“. Eine solche Überlegung liegt den völlig liberal denkenden Experten fern – und in der Tat ist es ja auch schwierig, diese sehr allgemeine Forderung allgemeinverbindlich auf die jeweilige konkrete Situation herunterzubrechen und auszubuchstabieren. Es gibt dafür keinen einfachen Algorithmus, keine schlichte Formel. Dennoch kann (und soll) der Gedanke der Ausrichtung aller seiner Möglichkeiten auf das Ziel des Guten hilfreich sein, um der Fairneß sich selbst gegenüber zu entsprechen.

So mag ein Chirurg sein Konzentrationsvermögen vor einer besonders schwierigen und gefährlichen Operation medikamentös verbessern, also Neuro- Enhancement betreiben. Damit wird er seine Fähigkeit zum Tun des Guten, nämlich der Heilung seines Patienten, optimieren. Doch muß er sich dabei fragen, ob das im Hinblick auf die Ausrichtung seiner ganzen Lebensleistung auf das Gute – was auch immer darunter zu verstehen ist – richtig ist. Die Frage mag im Einzelfall zu bejahen sein, ist aber für den Dauergebrauch von Neuro-Enhancement-Medikamenten womöglich zu verneinen, weil die Gesundheit – und damit die Fähigkeit, auf Dauer Gutes zu tun – gefährdet wird. Man sieht, es geht um subtile Abwägungen.

Angesichts dessen machen es sich die „führenden Experten“ allzu leicht, wenn sie Neuro-Enhancement nur nach sozialen Gesichtspunkten kritisch bewerten, im Verantwortungsbereich des einzelnen gegenüber sich selbst dagegen nicht. Darüber hinaus aber gelangen sie neben nicht weiter der Erwähnung wertem Geschwurbel zu abenteuerlichen, ja geradezu gefährlichen Schlußfolgerungen, wenn sie sich mit den Auswirkungen von Neuro-Enhancement auf soziale Gerechtigkeit auseinandersetzen.

Sie schildern die unerwünschte Schere der Ungleichheit zwischen den Berufs- und Lebenschancen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und weisen darauf hin, daß diese bereits weitgehend geduldet wird: „Eine exzellente Ausbildung in teuren privaten Schulen und Hochschulen schafft privilegierte Chancen für das künftige Berufsleben – nicht als Frucht eigenen Verdienstes, sondern als Verlängerung des privilegierten Status der Eltern.“ Solche vorteilhaften Startchancen veränderten, so die Experten, „nicht anders als NEPs“ (das sind Neuro-Enhancement-Präparate) die Gehirne derer, die Zugang zu ihnen haben. Mit anderen Worten: NEPs statt im traditionellen Sinne höherer und besserer Bildung! Welch ein Optimismus! Und „wenn der ‘Kauf’ ungleicher Chancen durch eine Ausbildung in Salem und Harvard die Gerechtigkeit nicht verletzt, warum dann der Kauf analoger Effekte durch Neuro-Enhancement?“

Um die ungerechte Schere durch Neuro-Enhancement nicht noch weiter zu öffnen, erwägen sie ein Gegensteuern durch den Staat, etwa durch Verbot von NEPs. Aber: „Freilich könnte ein künftiges Gegensteuern auch anders aussehen. Warum, so mag man fragen, gebietet die Gerechtigkeit nicht umgekehrt eine weite und großzügig subventionierte Verbreitung von NEPs gerade unter Angehörigen benachteiligter sozialer Schichten? Wäre das nicht ein sinnvollerer Weg, die weitere Öffnung jener sozialen Schere zu verhindern: nicht durch Beschränkung der Privilegierten, sondern durch Förderung der Benachteiligten?“ Also NEPs wie seinerzeit Vitamin-C-Tabletten – am Ende obligat – in der Schule verteilt.

Und woher soll das Geld für solcherart Volksbildung kommen? Auch dafür haben unsere Experten einen Vorschlag: „In der Praxis könnte der Staat beispielsweise den Kauf von Neuro-Enhancement-Präparaten durch wohlhabende Personen besteuern und das damit eingenommene Geld für öffentliche Bildungsförderung verwenden – etwa zur Subvention von NEPs für Einkommensschwache. (...) Und wäre der Nutzen für die gesamte Gesellschaft – die allgemeine Anhebung des geistigen Niveaus – nicht ein gewichtiges Argument für diese Lösung?“ Die Wissenschaftler sprechen von der „Fortsetzung eines zum Menschen gehörenden geistigen Optimierungsstrebens mit anderen Mitteln“. Die optimistische Formulierung erinnert an den preußischen General von Clausewitz mit seinem Satz vom „Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, der auch nicht von Kollateralschäden spricht.

Die Experten vergessen völlig die alte ärztliche Erfahrung, daß ein Medikament um so mehr Nebenwirkungen hervorruft, wie es erwünschte Wirkungen zeitigt. Und schließlich ist zu befürchten, daß der geradezu naiv erscheinende Optimismus unserer Experten angesichts von Medikamenten, die es (noch?) gar nicht gibt, von den für die Bildungsfinanzierung Verantwortlichen geteilt wird. Diese könnten dann im Vorgriff auf die erwarteten „bildenden“ Folgen staatlicher Verbreitung des NEP-Gebrauchs schon einmal anfangen, an den bewährten (oder zumindest traditionellen) Bildungseinrichtungen zu sparen. Die Technikfolgenabschätzer sollten sich deswegen auch mit der Abschätzung der etwaigen Folgen ihrer eigenen Memoranden beschäftigen.

 

Prof. Dr. med. Hans-Bernhard Wuermeling, Jahrgang 1927,  Lehrstuhlinhaber für Rechtsmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg (1973–1996), Gründungspräsident der Akademie für Ethik in der Medizin. Vorsitzender der Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer. 1986–2004 Mitglied und zeitweise Vorstandsmitglied des wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer.

Foto: Neuro-Enhancement-Präparate für bessere schulische Leistungen: „Chancengleichheit“ durch chemische „Gedankenverbesserer“ für sozial benachteiligte Schüler?

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