© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/10 19. Februar 2010

Girlanden aus Melodien
Meister der Musik: Dem polnischen Patrioten Frédéric Chopin zum 200. Geburtstag
Wiebke Dethlefs

In der Einzigartigkeit seines Schaffens und dessen musikalischer Qualität zählt Frédéric Chopin zu den größten Meistern der Musik überhaupt; Debussy hielt ihn gar für den Größten von allen. Dabei ist das Gesamtwerk des vor zweihundert Jahren geborenen Komponisten – bis heute sind sich die Biographen uneins, ob er am 22. Februar oder am 1. März das Licht der Welt erblickte – nicht sonderlich umfangreich, gemessen an der Produktivität anderer Komponisten; auf nur 17 CDs findet es Platz. Die Beschränkung auf das Klavier ist das auffälligste Charakteristikum. In keinem Werk fehlt es, und in den wenigen Kammermusikschöpfungen beziehungsweise Konzertstücken dominiert es sogar. Chopin gelang es, nur durch das Klavier die ganze Bandbreite möglicher Emotionen und Stimmungen darzustellen.

Dieses musikalische Wunder ist schwer zu erklären. Vielleicht besteht es in der hybriden Einbeziehung unterschiedlichster Mittel. Chopin integriert Elemente des Gesangsstils, er verknüpft sie mit Tanzformen und bindet diese Mixtur in die klassischen Formen der Sonate, des Rondos oder der Variation. Von Schubert übernimmt er die Gattung des Impromptus, von John Field das bis dahin nicht existierende Nocturne. Doch welch neues Gesicht erhalten diese Formen dabei! Durch jene Mischung „volkstümlicher“ und „kultivierter“ Elemente entsteht eine mehrdeutige Musik, die auch an den Hörer große Anforderungen stellt. Bei den volkstümlichen Elementen handelt es sich ausschließlich um polnische Tanzformen wie Mazurka, Polonaise, Krakowiak oder Kujawiak.

Doch keinem Komponisten gelang es je, die Folklore seiner Heimat derart künstlerisch zu sublimieren, daß sie gleichsam in die internationale Sphäre entschweben konnte. Chopins Kompositionen sind – bei aller Betonung des Polnischen – übernational der Inbegriff romantischer Klaviermusik überhaupt.

Dem in Chopins Lebenszeit wachsenden polnischen Nationalbewußtsein begegnete er auf seine Weise. Er blieb in allen nationalen Äußerungen sehr zurückhaltend, verschmähte die offene politische Stellungnahme durch eine Nationaloper (die er sich immer zu schreiben weigerte) – und ist dennoch zum größten Botschafter seines Landes geworden. Als erster Meister außerhalb der um 1830 bestehenden großen Musiknationen wie Italien und Deutschland ging Chopin daran, eine nationale Kunstmusik zu schaffen. Seine ersten gültigen Werke entstanden nach 1825, über dreißig Jahre vor Smetana, zwanzig Jahre vor Glinka, fünfzig Jahre vor Grieg.

Bemerkenswert an dem Phänomen Chopin ist weiter, daß er ohne Lehrer zu dem wurde, der er war. Zwar erhielt er durch Adalbert Zywny und Joseph Xaver Elsner Unterricht in der Theorie, doch diese waren keine Mentoren. Die völlig neue Art der Klavierbehandlung, wie sie vielleicht bei Hummel und Kalkbrenner angedeutet ist, eignete er sich mit schöpferischer Kraft allein an. Bereits seine ersten Werke zeigten das Können Chopins, er machte keine musikalische Entwicklung durch. Das op.2 von 1827, die Variationen über „Là ci darem la mano“, ist von der gleichen künstlerischen Reife wie die späte Barcarole, vielleicht sein Opus summum, von 1846.

Was ist nun das Besondere an Chopins Stil? Zum einen ist die Figuration, die virtuose Ornamentik, kein Selbstzweck, sondern stets von motivischem Leben erfüllt. Was insbesondere bei Liszt oder Hummel leeres Geplätscher bleibt, verwandelt sich bei Chopin zur meloserfüllten Girlande. Sein wahrscheinlich wichtigstes Charakteristikum ist die Betonung der Chromatik in Verbindung mit völlig freiem Wechsel der Tonarten, die vor ihm kein Komponist mit solcher Kunst einsetzte.

Bei Chopin ist die klassische Funktionsharmonik fast schon aufgelöst. Nicht von ungefähr erscheint in seinem letzten Werk, der f-moll-Mazurka op. 68 Nr. 4 von 1849, im 13. Takt der Tristan-Akkord, aber nicht als Klang wie bei Wagner, sondern als Produkt einer höchst komplexen Stimmführung. Und natürlich verwirrte diese Neudeutung der Akkordik – bei aller Bewunderung für Chopins Können als Virtuose – die Zeitgenossen. „Chopin ist in Aufsuchung ohrenzerreißender Dissonanzen, schneidender Modulationen ganz unerschöpflich. (…) In der Leidenschaft, gesucht und unnatürlich zu schreiben,  sättigt er sich bis zum edlen Übermaß“, wie der Kritiker Ludwig Rellstab 1834 feststellte.

Noch für heutige Ohren ist manches durchaus erschreckend: der furchtbare Beginn des h-moll-Scherzos op. 20 mit seinen apokalyptischen Stürmen, die suchend umherirrende Harmonik und der nie dagewesene Klang und Ausdruck der Trostlosigkeit in der Mazurka a-moll op.17 Nr. 4 bzw. im a-moll-Prélude op. 28 Nr. 2 oder dem unheimlichen Finale der b-moll-Sonate, in dem der „Wind über Gräbern weht“, wie Alfred Cortot schrieb.

Doch dem stehen Werke wie das Nocturne in Des, op.27 Nr. 2 gegenüber, das, wie Adolf Weißmann meinte, „den Frauen die Besinnung raubt und durch das junge Mädchen wissend werden können“. Und in der Tat ist die Coda dieses Stücks erfüllt wie von einem narkotischen Rausch und von einer subtilen, unirdischen Klangschönheit, die kaum glauben läßt, daß sie von nur einem Instrument erzeugt wird. Freilich wurde Chopin gerade der Nocturnes wegen im 19. Jahrhundert oft als Salonkomponist abgestempelt, wobei man deren hochartifiziellen Aufbau nicht wahrnehmen wollte.

Sieht man von dem Tristan-Akkord in Chopins letztem Werk ab, gibt es dennoch bei ihm keine Harmonien, die nicht schon vorher einmal erklungen waren. Nur wie er sie kombiniert, wie er aus ihnen in den unterschiedlichen Lagen des Instruments die reichste Farbpalette bildet, macht den besonderen Zauber seiner Tonsprache aus und ist bereits eine Vorwegnahme des Impressionismus, wie es aufs schönste das wenig gespielte cis-moll-Prélude op.45 zeigt. Und der Elfenzauber, den er im E-Dur-Scherzo op. 54 entfesselt, ist sicherlich nicht weniger hinreißend als der aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“.

Die musikalische Quintessenz des polnischen Patrioten Chopin zeigt sich nirgendwo grandioser als in der As-Dur-Polonaise op. 53: ohne bestimmende Tonart zunächst die Einleitung, dann seltsam chromatisch verwandelte Akkordfolgen, und dann erst der kraftvoll-sieghafte Rhythmus des aristokratischen Tanzes, der in raffinierten Tonartwechseln triumphal gesteigert wird.

Der Musikschriftsteller Hans Joachim Moser meint über Chopins Nocturnes: „Sie wirken, als strahlte ein unwahrscheinlich greller Mond auf Lotosblumen und narkotisch duftende Orchideen – geheimnisvoll bannend, suggestiv überredend, eine berückende Sprache seltsamer Zauberei. So war seine Kunst, und so war eigentlich der ganze Künstler.“ Kann ein schöpferischer Musiker eine herrlichere Würdigung erhalten?

Mieczyslaw Tomaszewski: Chopin. Ein Leben in Bildern. Schott Music, Mainz 2010, gebunden, 360 Seiten, 49,95 Euro

Eva Gesine Baur: Chopin oder Die Sehnsucht. Eine Biographie. C.H. Beck, München 2009, gebunden, 564 Seiten, 27 s/w-Abbildungen, 24,90 Euro

Adam Zamoyski: Chopin. Der Poet am Piano.  C. Bertelsmann, München 2010, gebunden, 400 Seiten, 16 s/w-Abbildungen, 22,95 Euro

Fotos: Porträt des Frédéric Chopin, gemalt von Eugène Ferdinand Victor Delacroix (1838): Der Größte, Chopin (1849)

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