© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/10 19. Februar 2010

Die Nabelschnur ist noch nicht durchschnitten
Juden in Deutschland: Ein Sammelband widmet sich der schwierigen Frage nach der gemeinsamen Identität und Erinnerung
Konrad Löw

Das Buch Thomas Brechenmachers zu „Schlüsselthemen deutschjüdischer Geschichte und Gegenwart“ vereinigt neben der Einführung neun Beiträge, fünf unter der Überschrift „Identität“ und vier unter „Erinnerung“. Ohne Erinnerung keine Identität. Ohne Identität keine gemeinsame Erinnerung. Beides bedingt sich gegenseitig.

Der Band geht auf eine wissenschaftliche Tagung zurück, die anläßlich des 60. Geburtstags des Münchner Historikers Michael Wolffsohn veranstaltet wurde. Der Rabbiner Tovia Ben-Chorin befaßt sich in seinem Beitrag mit den drei Bestandteilen der jüdischen Identität und nennt als ersten die Beschäftigung mit den Quellen des Volkes, angefangen mit den Heiligen Schriften. Der zweite: bewußt in der „Jüdischen Zeit“ leben. Damit ist das Einhalten des Shabbats und der Feste gemeint. Der dritte Bestandteil mag viele überraschen: die Liebe zum Fremdling. Dieses Gebot wird biblisch begründet: „Du sollst ihn lieben wie dich selbst, weil ihr selbst Fremdlinge wart im Lande Ägypten.“ Der bibelkundige Leser weiß, daß nicht alle einschlägigen Verlautbarungen das Zitierte bestätigen.

Für manche ist es wohl ein Aha-Erlebnis, was alles aus der Wahl des Vornamens herausgelesen werden kann. Wolffsohn wie Brechenmacher nehmen den Faden wieder auf, den sie vor zehn Jahren mit „Die Deutschen und ihre Vornamen“ gesponnen haben. Wolffsohn befaßt sich eingehend mit dem in Deutschland so populären Namen „,Michael“, der gerade im 20. Jahrhundert noch rasant an Beliebtheit zugelegt hat. Welchen Einfluß dabei der Vorname des angesehensten deutschen Bischofs, Michael Faulhaber  (von 1916 bis 1952 in München im Amt), gehabt haben dürfte, wird leider nicht angesprochen. Zur Genugtuunug vieler deutscher Juden hatte er schon 1933 fünf NS-kritische Predigten über „Christentum, Judentum und Germanentum“ gehalten.

Aus Brechenmachers Untersuchung „Zwischen Assimilation und jüdischer Renaissance“ soll ein Satz herausgepickt werden: „Die deutschen Juden entschieden sich zwischen 1860 und 1938 in ihrer überwältigenden Mehrheit für Vornamen aus dem Schatz der nichtjüdischen Mehrheitskultur.“ Mit anderen Worten: Assimilation bestimmte das Tun, nicht die „Jüdischen Zeiten“,  auf die Ben-Chorin sich zuvor bezog.

Um „jüdische Theologie“, wie sie Leo Baeck vertreten hat, geht es Walter Homolka. Baeck, 1943 nach Theresienstadt deportiert, durfte auch dort forschen, „bereit für jede andere Aufgabe, die ihm die Schergen zuwiesen“, wie es vielsagend heißt. Nach eigener Bekundung hat er erst dort vom Genozid Kenntnis erlangt, die er für sich behielt, um die potentiellen Opfer um ihn herum nicht vorzeitig in Verzweiflung zu stürzen.

Das Schweigen konnte also vielerlei Gründe haben. Ein Vorwurf steht dabei im Raum: Die kirchlichen Verlautbarungen aus der NS-Ära hätten bezeichnenderweise das Wort „Juden“ vermieden, so als ob sie „Juden“ anstößig fänden. Darauf geht der israelische Historiker Moshe Zimmermann unter „Deutsch-jüdische und deutsch israelische Beziehungen“ direkt ein: „Mehr als hundert Jahre vor der Staatsgründung Israels entschieden Juden in Europa, sich als Israeliten zu bezeichnen und somit sich von der pejorativen Bezeichnung als Juden zu befreien.“ An anderer Stelle trifft Zimmermann die betrübliche Feststellung: „Dabei zeigte sich zum wiederholten Mal, daß die Abneigung gegenüber dem, was man deutsche Kultur nennt, am stärksten bei den religiösen und ultra-orthodoxen Juden zum Ausdruck kommt.“

Im zweiten Teil, der mit „Erinnerungen“ überschrieben ist, geht es zunächst um „Preußen, Habsburg, Sachsen und das Heilige Römische Reich in der jüdischen Geschichte. Beobachtungen, Fragen, Anstöße“. Horst Möller, der Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, macht den Leser mit Ernst Fraenkel vertraut, dem „Analytiker von Demokratie und Diktatur“. Er mußte 1938 seine Heimat verlassen, fest entschlossen, nach dem Hitler-Spuk mit dem ersten Schiff zurückzukehren. Diesen Vorsatz setzte er in die Tat um, wenn auch nicht unverzüglich. Als er 1975 in Berlin starb, war er ein gebrochener Mann, APO und Studentenrevolte hatten ihm das Leben vergällt. Der Band schließt mit einer kritischen Schilderung der gegenwärtigen Erinnerungskultur  („Erinnern –  ein biblisches Gebot?“) durch den geschäftsführenden Direktor der Stiftung „Topographie des Terrors“ und früheren Vorstandsvorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Andreas Nachama.

Thomas Brechenmacher (Hrsg.): Identität und Erinnerung. Schlüsselthemen deutschjüdischer Geschichte und Gegenwart. Olzog Verlag, München 2009, gebunden, 224 Seiten, 26,90 Euro

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