© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/10 26. Februar 2010

„Das ganze politische System erodiert“
Niederlande: Vorgezogene Neuwahlen nach Eklat um Afghanistan-Einsatz / Geert Wilders im Aufwind / Kommunalwahlen als Testlauf?
Mina Buts

Am Wochenende zerbrach – trotz allen Streits überraschend – die niederländische Dreierkoalition durch den Austritt der Sozialdemokraten (PvdA). Premier Jan Peter Balkenende verkündete nach einem 16stündigen Krisengipfel, daß eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen seiner Christdemokraten (CDA), der PvdA und der Christen-Union (CU) nicht mehr möglich sei. Am Dienstag nahm Königin Beatrix die Demission an und machte den Weg für Neuwahlen am 9. Juni frei.

Auslöser für den Bruch war die Nato-Anfrage, die Stationierung der 1.800 niederländischen Soldaten in der afghanischen Provinz Urusgan bis 2011 zu verlängern. Vizepremier Wouter Bos (PvdA) erteilte diesem Ansinnen eine klare Absage; das widerspreche dem Koalitionsvertrag von 2007. Entweder beschließe die Regierung den versprochenen Abzug bis zum Jahresende, oder die Koalition sei beendet.

Dies war nicht der erste Streit um einen Militäreinsatz. Im Januar hatte eine von Balkenende eingesetzte Kommission festgestellt, seine Unterstützung des anglo-amerikanischen Irak-Kriegs im März 2003 habe das Völkerrecht mißachtet (JF 4/10). Zudem habe er das Parlament nicht richtig informiert. Schon um seine Glaubwürdigkeit zu wahren, sah sich Bos nun zum Ausstieg aus der Koalition gezwungen.

Mit seiner Entscheidung hat er den Nerv der „kriegsmüden“ Niederländer getroffen: 21 Soldaten sind bislang in Afghanistan gefallen, Urusgan gilt als gefährlichste Provinz, und kaum ein Niederländer vermag den Sinn des Engagements am Hindukusch noch zu erkennen. Damit erhofft Bos sich Rückenwind für seine PvdA, die 2006 mit 33 von 150 Sitzen noch zweitstärkste Partei war, derzeit laut Umfragen aber nur noch 15 bis 22 Mandate erwarten kann. Da es keine Fünf-Prozent-Hürde gibt, sitzen derzeit zehn Parteien in der Zweiten Kammer (JF 49/06). Vier können mit je 15 bis 20 Prozent der Stimmen (etwa 20 bis 30 Sitzen) rechnen: die CDA, die wirtschaftsliberale Volkspartei (VVD), die Linksliberalen (D’66) und die rechtsliberal-islamfeindliche Ein-Mann-Partei von Geert Wilders, die Partei für die Freiheit (PVV).

Die Grünen und die Sozialisten (SP) werden mit zehn bis 15 Prozent taxiert. Die wertkonservativ-soziale CU und die streng kalvinistische SGP dürften ebenfalls wieder einige Mandate erringen. Ob es die ehemalige VVD-Ausländerministerin Rita Verdonk mit ihrer neuen rechtsnationalen Partei Stolz auf die Niederlande (TON) ins Parlament schafft, ist angesichts der Wilders-Hysterie nicht sicher. Die höchsten Zugewinne werden nämlich – neben D’66 – dem derzeit wegen Volksverhetzung angeklagten Geert Wilders zugetraut.

Allerdings ist dessen Immunität zur Zeit aufgehoben, ein Ende des Prozesses noch nicht abzusehen (JF 5/10). Sowohl Wilders als auch sein Anwalt Bram Moszkowicz rechnen mit einer Verurteilung „aus politischen Gründen“. Wilders selbst gibt sich dennoch optimistisch. Er erklärte, er könne sich nach den Wahlen eine Regierungsbeteiligung seiner PVV durchaus vorstellen, er selbst vielleicht dann Innenminister werden.

Die Sozialdemokraten wollen das unbedingt verhindern. Gleich nach ihrer Demissionierung forderten Bos und der ehemalige Staatssekretär für Europäische Angelegenheiten, Frans Timmermans, eine politische Abgrenzung aller Parteien von der PVV. Auch Balkenende täte gut daran, eine Zusammenarbeit mit Wilders von vorneherein auszuschließen.

CDA-Fraktionschef Pieter van Geel konterte, es sei unvernünftig, sich gegenseitig auszugrenzen: „Das gehört nicht in eine Demokratie.“ Mit Blick auf die andauernde politisch-mediale Isolierung der flämischen Rechtspartei Vlaams Belang durch die belgischen Parteien meinte er: „Wir schließen niemanden aus. Wir wollen keinen cordon sanitaire.“ Auch SP-Fraktionschefin Agnes Kant hält die PvdA-Forderung für eine Schnapsidee, die Wilders nur noch mehr Stimmen bringe. Balkenende kann sich eine Zusammenarbeit mit der PVV zwar vorstellen, hält diese aber für „alles andere als einfach“, wie er am Sonntag sagte. Doch Balkenende ist flexibel, wenn es um die Macht geht. 2002 führte er eine Koalition aus CDA, VVD und der damaligen Liste des ermordeten Islamkritikers Pim Fortuyn (JF 31-32/02). Nach deren Scheitern koalierten CDA und VVD mit D’66 – eine Option, die nicht völlig ausgeschlossen ist. Welche Auswirkungen der Regierungssturz auf die am 3. März stattfindenden Kommunalwahlen haben wird, bleibt abzuwarten. Möglicherweise wird Bos’ klare Haltung durch Zugewinne für seine Partei honoriert.

Der ehemalige PvdA-Innenminister Bram Peper glaubt indes nicht daran. Jede vierte Stimme gehe in den Kommunen an lokale Wahlbündnisse – und: „Das ganze politische System erodiert.“ Zudem tritt Wilders’ PVV in den meisten Kommunen gar nicht an. Und in den Wochen bis zur Wahl kann noch viel passieren: Pim Fortuyn war neun Tage vor den Parlamentswahlen vom 15. Mai 2002 ermordet worden.

Foto: Heißluftballon-Wahlwerbung für Regierungschef Balkenende: „Wir wollen keinen cordon sanitaire“

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