© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

In Datengewittern
Das Internet ist unser Leben: Staat und Gesellschaft treten in eine neue Epoche ein
Michael Paulwitz

Das Internet ist heute unser Leben.“ Die Politiker, die zur Eröffnung der Cebit in Hannover aufgaloppiert waren, haben wohl kaum die Tragweite dessen begriffen, was Bitkom-Verbandspräsident August-Wilhelm Scheer ihnen da ins Stammbuch geschrieben hat. Die Leitmesse der Branche mag in der Krise stecken, doch die digitale Revolution geht weiter – und sie wird nicht nur unser Alltagsleben, sondern auch Wirtschaft, Gesellschaft und Staat weitaus grundstürzender verändern, als wir es uns heute vorstellen.

Medien und Kommunikation haben die „vernetzten Welten“, denen die Cebit diesmal ihren Schwerpunkt widmet, bereits signifikant revolutioniert. Mit Rechner, Text- und Gestaltungsprogramm kann jeder mit erschwinglichem Aufwand zum Verleger werden, dank Internet-Anschluß steht es jedem frei, sich als Kommentator oder Berichterstatter in eigener Sache zu betätigen, sich mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen oder spontan Anhänger für ein gemeinsames Anliegen zu mobilisieren. Die Aufbrechung der lange allein vorherrschenden frontalen Sender/Empfänger-Kommunikationshierarchien hat die Informations- und Meinungsfreiheit in einem Maße demokratisiert wie zuletzt ein halbes Jahrtausend zuvor die Erfindung des Buchdrucks.

Information, jederzeit und dank mobiler Geräte zunehmend auch überall verfügbar, stellt neue Herausforderungen an den Umgang mit dieser Ressource. Die Quantität hat zugenommen und wächst rapide weiter an, nicht aber zwingend auch die Qualität. Die Notwendigkeit, die Informationsflut zu filtern und dem eigenen Denken Freiräume von allgegenwärtiger Dauerablenkung zu verschaffen, führt nicht nur bei FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher zu einem Gefühl der Überforderung, dem er in seinem Buch-Essay „Payback“ Ausdruck verliehen hat.

Kritiker haben Schirrmacher entgegengehalten, er fühle sich von den neuen digitalen Lebenswelten überfordert, weil er über sie aus der Distanz des Außenstehenden urteile und nicht selbstverständlich in ihnen lebe. Damit bestätigen sie indirekt die gern geleugnete Gefahr einer „digitalen Spaltung“ der Gesellschaft. Wer sich den interaktiven Kommunikationsformen der digitalen Medien und Netzwerke verweigert oder mit ihnen nicht mehr mitkommt, wird von gesellschaftlicher Teilhabe zunehmend abgehängt und ausgesperrt.

Das gilt auch für die Arbeitswelt. Wie die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts verändert die digitale Revolution unser Denken und unsere Lebensweise. Sie konzentriert die Wertschöpfung auf immer weniger Personen, an deren Qualifikation immer komplexere Ansprüche gestellt werden. Wer heute ein Auto reparieren will, muß rechnergesteuerte Maschinen und elektronische Diagnosesysteme bedienen können. Für den handwerklich begabten funktionalen Analphabeten wird die Luft dünn.

Ein Kennzeichen der industriellen Revolution war die massenhafte Mobilisierung und Formierung des Arbeiters, begleitet von Klassenspaltungen, die in den blutigen totalitären Experimenten des 20. Jahrhunderts mündeten. Die digitale Revolution ist begleitet von der Massendemobilisierung manueller Arbeitskraft und der neuen Spaltung der Gesellschaft in eine gut ausgebildete, international vernetzte und konkurrierende Informationselite und einen stetig anwachsenden Rest, der für die Wertschöpfung nicht mehr benötigt wird und auf Fürsorgeleistungen angewiesen ist.

Die nivellierte Mittelstands- und Mittelschichtgesellschaft des Wirtschaftswunderzeitalters, in der die gesellschaftliche Spaltung des Industriezeitalters überwunden schien, könnte sich als glückliches Zwischenhoch erweisen, dem eine Rückkehr in feudale oder gar – in einem anderen als dem Westerwelleschen Sinne – „spätrömische“ Zustände folgen könnte, mit einer scharfen Trennung zwischen global fühlender Elite und unmündiger, abhängiger Bevölkerungsmasse. Die anhaltende Sozialstaatsdebatte gibt eine Vorahnung der Bruchlinien künftiger Verteilungskämpfe, die weniger homogene Gesellschaften am ehesten zerreißen werden.

Das Leben im Internet stellt neue Machtfragen und schafft neue Ansatzpunkte für quasi-totalitären Machtmißbrauch. Staaten konkurrieren mit international operierenden Konzernen um die Kontrolle über die anschwellenden Informationsströme. Die Auslagerung von Daten und Programmen weg vom Einzelarbeitsplatz oder Unternehmensstandort in zentrale Netzwerkknoten, die Ansammlung personenbezogener Informationen bei den großen Organisatoren des weltweiten Datenverkehrs weckt Begehrlichkeiten. Regierungen, IT- und Kommunikationsunternehmen werfen sich gegenseitig Datensammelwut vor – den „gläsernen Bürger“ wollen sie alle.

In der vernetzten Welt geht es im Verhältnis von Staat und Bürger indes noch um mehr als um Datenschutz. Es geht um die Frage, ob der Nationalstaat als Ort demokratischer Willensbildung noch eine Zukunft hat. Wer im Netz lebt, lebt in der Gegenwart. Eine Flut von Informationen über die Gegenwart schließe die Vergangenheit aus, konstatiert Internet-Guru David Gelernter. Wer die Auswahl und Organisation der ihn interessierenden Daten aus dem verfügbaren Informationsmeer keiner technischen Instanz anvertrauen möchte, ist auf sich selbst zurückgeworfen. Eine gemeinsame Wir-Erzählung als verbindendes Fundament einer Nation wird dadurch wesentlich erschwert.

Die politische Herausforderung der digitalen Revolution besteht in der Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen und in der Definition einer Perspektive für den demokratisch legitimierten Nationalstaat. Sie fordert den aufgeklärten, kritischen und verantwortungsbewußten Bürger, wenn an ihrem Ende nicht ein neuer Totalitarismus stehen soll. Wir stehen am Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte.

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