© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Kolumne
Verrückte Maßstäbe in unserem Lande
Klaus Motschmann

Die Bundeskanzlerin sah sich jüngst in einem Interview zu der Feststellung veranlaßt, daß „Selbstverständliches selbstverständlich bleiben müsse“ – eine nicht eben beiläufige Randbemerkung. Man darf aus dieser Erinnerung an einstmals selbstverständliche Verhaltensweisen den Schluß ziehen, daß inzwischen auch die Bundeskanzlerin gravierende Defizite in der vielzitierten politischen Streitkultur unserer sogenannten Zivilgesellschaft festgestellt hat.

Doch was ist nach über vierzig Jahren Kulturrevolution und andauernder Systemveränderung noch „selbstverständlich“, nachdem alle maßgebenden Normen und Formen in Gesellschaft und Politik ihre prägende Kraft verloren haben? Sie sind systematisch und programmatisch durch das Prinzip der „emanzipatorischen Selbstbestimmung“ verdrängt worden. Die aktuellen Belege für diese Feststellung können den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den Rücktritt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, aufgrund einer Alkoholfahrt am Steuer ihres Dienstwagens entnommen werden. Sie werden nicht nur durch ein hohes Maß an Verständnis, Vertrauensbekundungen und Sympathiebezeugungen bestimmt, sondern auch durch offiziöse Erklärungen, die ein bedenkliches Amtsverständnis und Rechtsbewußtsein dokumentieren – nach dem Urteil einer großen deutschen Zeitung „die verrückten Maßstäbe in diesem Lande“ (im Doppelsinn des Wortes). Sie gipfeln in der Meinung, „daß durch einen einzigen Fehltritt nicht ein ganzes Leben zerstört werden“ dürfe. Davon kann selbstverständlich überhaupt keine Rede sein; wohl aber davon, daß diese merkwürdige lyrische Empfindsamkeit in einem krassen Widerspruch zu Fehltritten anderer steht, zum Beispiel zu „Fehltritten“ konservativer Politiker und Publizisten im Umgang mit dem Rechtsradikalismus. Man erinnere sich an die Kampagnen gegen Martin Hohmann, General Günzel, Eva Herman oder Henry Nitzsche wegen vermeintlicher Fehltritte.

Das offenkundige Anlegen doppelter Maßstäbe trägt selbstverständlich zum Verlust der Glaubwürdigkeit bei. Margot Käßmann ist sich dieses Zusammenhanges offensichtlich bewußt und deshalb von ihren kirchlichen Ämtern zurückgetreten – ausdrücklich gegen den vorherrschenden sogenannten Mainstream in der evangelischen Kirche. Selbstverständliches muß wieder selbstverständlich werden!

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste Berlin.

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