© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

CD: Tocotronic
Blasiert
Georg Ginster

Zwar mangelt es hierzulande nicht an DSDS-fähigen Abfallprodukten, Aggro-Sozialstudien sowie irgendeine stumpfsinnige Masche bedienenden Gassenhauerproduzenten à la Rammstein, den Toten Hosen oder den Ärzten. Etwas, das in nüchternem Zustand jenseits der Pubertät und vor der ästhetischen Demenz des Grönemeyertums hörbar wäre, ist aber rar gesät.

Diese Ausnahmen wiederum sind nahezu ausnahmlos vom Leiden an der Oberflächlichkeit musikalischer Unterhaltung gezeichnet, der sie durch Grüblerein und Vexierbilder Abbitte zu leisten versuchen. Zu ihnen zählt die 1993 in Hamburg gegründete Band Tocotronic, die in ihren Anfängen ob ihrer landsmannschaftlichen Herkunft, ihres wohlgeordneten, Gut und Böse sauber differenzierenden Weltbildes und vor allem eines gewissen gutbürgerlich-intellektuellen Anspruchs zu einer sogenannten „Hamburger Schule“ gerechnet wurde, ein Sammelbegriff allerdings, den alle unter ihm Subsumierten stets weit von sich gewiesen haben.

Die Vorschußlorbeeren, mit denen Tocotronic bereits bedacht wurde, als der Gruppe noch ein Halbwüchsigen-Image anhaftete und sie nicht ganz frei von gelegentlichen Klamaukanwandlungen in erster Linie Geräusche aus der Krachmacherstraße produzierte, haben sich hinsichtlich ihres Entwicklungspotentials durchaus als berechtigt erwiesen. Bereits „K.O.O.K.“ (1999) und das weiße Album des Jahres 2002 markierten den Übergang von einer infantilen Ästhetik zu einer sozusagen subtilen, die dem fortgeschrittenen Alter der Musiker eher gerecht wurde und die verfeinerten Ansprüche einer dauerhaft bloß mit Spontaneität nicht zufriedenzustellenden Hörerschaft bediente.

Seither wird das Zungenschnalzen, man habe es hier mit poetischen Genies zu tun, deren psychologischer Scharfsinn es ihnen gestatte, nebenbei den Zeitgeist einzufangen, von CD zu CD immer lautstarker und penetranter. Wer den vermeintlich philospohischen Höhenflügen der Band seine salbungsvolle Referenz erweist, setzt sich jedoch dem Verdacht aus, nur seinen eigenen Tiefsinn als qualitätsbewußter Konsument loben zu wollen.

Tatsächlich wird Tocotronic dem Nimbus, in dem sich die Musiker eitel und vermeintlich spielerisch sonnen, nämlich allenfalls sporadisch gerecht. Bereits der Titel ihrer neuesten CD, „Schall & Wahn“ (Universal), bringt ihre Begrenztheit auf den Punkt. Abgegriffene Bilder, erzwungene Reime, Wehwehchenlyrik, mißlungene Wortspiele, blasierte Anspielungen, inszenierter Charme, wichtigtuerische Unbotmäßigkeit aus Stubenhockerperspektive: Die entweder zart über das Gitarren- und Schlagzeuggeschehen gehauchten oder, oh wie wild und ungestüm, auch mal herausgeschrienen Wortkompilationen müssen einen Vergleich mit Ich & Ich nicht scheuen.

Hinsichtlich der Musik wäre dieser aber unstatthaft: Aufgeplustert mit Coolness und Pathos vollzieht Tocotronic eine fulminante Bruchlandung in einer drögen Simplizität weit unterhalb des Schlagerniveaus. In dem als Single ausgekoppelten Stück „Macht es nicht selbst“ heißt es: „Was du auch machst, sei bitte schlau, meide die Marke Eigenbau.“ Die von ihr augenzwinkernd ausgegebene Parole hätte die Band besser selbst beherzigt.

Tocotronic, „Schall & Wahn“: Abgegriffen, Internet: www.tocotronic.de 

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