© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/10 05. März 2010

Kleine Frau ganz groß
Skurrile Gestalten: „Alice im Wunderland“ von Tim Burton
Claus-M. Wolfschlag

Alice im Wunderland“ ist das bekannteste – 1863 fertiggestellte – Buch des britischen Schriftstellers Lewis Carroll, eines Zeitgenossen der viktorianischen Epoche, der sich als Universalgelehrter versuchte. Neben dem Verfassen absurd-phantastischer Literatur wirkte Carroll auch als Fotograf, Mathematiker und Diakon.

Tim Burtons jetzt in die Kinos kommende Verfilmung des Kinderbuch-Klassikers arbeitet insofern aber unter falschem Titel, als sie gar nicht die Geschichte von „Alice im Wunderland“ erzählt. Die Geschichte der kleinen Alice, die während eines Picknicks in ein von seltsamen Figuren bevölkertes Reich gerät, liefert nur die Eingangshandlung.

Vielmehr spielt die Geschichte viele Jahre nach den Erlebnissen des Kindes. Die nun neunzehnjährige Alice vermag sich an die damaligen Begebenheiten nur als vermeintliche „Träume“ zu erinnern.

Das Motiv ähnelt jenem in Steven Spielbergs Spielfilm „Hook“ (1991), wo ein erwachsen gewordener Peter Pan die Erfahrungen seiner Kindheit in Nimmerland längst vergessen hat, bis er erneut dorthin gerät und noch einmal das kindliche Weltverständnis erlernen muß.

Tim Burtons Film vermischt die ursprüngliche Geschichte von „Alice im Wunderland“ mit Elementen aus Carrolls 1871 erschienener Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln“. Zu dem alten Spielkartenmotiv tritt jenes des Schachspiels. Die Soldaten der weißen Königin etwa sind Schachfiguren, der Kampf findet statt zwischen Weiß und Rot (anstelle des heute üblichen Schwarz). Auch die Figur des Drachen Jabberwock, gegen den die junge Frau im Finale kämpfen muß, entstammt dem Buch „Alice hinter den Spiegeln“.

So erzählt Tim Burton also die Geschichte der jungen Erwachsenen Alice (Mia Wasikowska), die auf einem Gartenfest mit einem schnöseligen Landadeligen verlobt werden soll, den sie nicht liebt. Während des Antrags wird Alice von einem bekleideten Kaninchen abgelenkt, folgt diesem und fällt dabei in ein großes Loch. Sie landet nach dem Fall im Wunderland, das weitenteils von einer despotischen roten Königin beherrscht wird, welche ihre Untertanen lieber durch Furcht als durch Liebe zum Gehorsam zwingt. Alice wird von diversen skurrilen Gestalten und sprechenden Tieren, einem grellen Hutmacher (Johnny Depp) etwa, einer rauchenden blauen Raupe und einer grinsenden Katze an den Hof der weißen Königin geführt, um von dort aus die Rebellion gegen die rote Despotin und ihren Drachen Jabberwock aufzunehmen.

24 Mal wurde Carrolls Geschichte bereits verfilmt, vom Stummfilm bis zum Porno-Musical. Tim Burton schuf nun die erste Fassung in 3D, dem neuen, von der Filmindustrie derzeit forcierten technologischen Trend. Burton wollte offenbar eine Neufassung des Stoffs, da ihm die ursprüngliche Geschichte zu sehr als pure Aneinanderreihung von Begegnungen mit seltsamen Geschöpfen vorgekommen war.

Doch gerade hierin liegt ja der Reiz von Carrolls Geschichte – und jene seltsamen Situationen liefern denn auch die eindringlichsten Momente in dem Streifen. Schließlich hat Burton sich in der Vergangenheit auch gerade als Meisterregisseur des Absurden („Edward mit den Scherenhänden“, „Mars Attacks!“, „Planet der Affen“, „Charlie und die Schokoladenfabrik“) bewiesen.

Der Rest des Films gleitet dann aber etwas in ein modisches Fantasy-Action-Spektakel ab, mit Anklängen an den „Herrn der Ringe“, mit einer Alice zwischen Jeanne d’Arc und Siegfried, dem Drachentöter. Hinzu kommt ein etwas zu sentimental gestaltetes Ende, das den Freigeist-Charakter der jungen Alice eher schmälert.

Doch ganz anders als unlängst sein Kollege Terry Gilliam, der sich mit dem wirren „Kabinett des Dr. Parnassus“ gründlich überhob, hat Burton die Kurve noch hinbekommen. So ist ein unterhaltsamer, optisch gelungener und in seiner Handlung immerhin stringenter Film gelungen. „Alice im Wunderland“ führt in eine groteske Märchenwelt, deren Gestaltung aus jeder Pore Liebe und Humor atmet.

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