© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Bundesverfassungsgericht
Bollwerk des Rechtsstaates
Dieter Stein

Wieder einmal haben die Karlsruher Richter in den roten Roben ihrem Ruf als Hüter der Verfassung alle Ehre erwiesen. Mit einer Entscheidung hob das Bundesverfassungsgericht in der letzten Woche Urteile wegen angeblicher Volksverhetzung von bayerischen Gerichten auf. Zum wiederholten Male konnte dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit nur in letzter Instanz zum Durchbruch verholfen werden. Immer häufiger entscheiden Richter der ersten Instanzen insbesondere bei politisch „rechtsgerichteten“ Demonstrationen gegen das Recht auf Versammlungsfreiheit. Immer öfter wird der Volksverhetzungsparagraph 130 Strafgesetzbuch extensiv ausgelegt und kommt es zu schnelleren und fragwürdigeren Verurteilungen.

In dem jetzt entschiedenen Fall wurden Mitglieder einer rechtsradikalen Gruppierung bereits vor acht Jahren wegen des Tatbestands der Volksverhetzung verurteilt. Sie hatten Plakate geklebt mit der Aufschrift „Aktion Ausländer-Rückführung. Aktionswochen. Für ein lebenswertes deutsches Augsburg. Augsburger Bündnis – Nationale Opposition“. Über Ästhetik und Aussage der Plakate wird man sich trefflich streiten können – aber ist dies ein Fall von Volksverhetzung? Die bayerischen Richter sahen dies so und konnten sich nach dem seit dem Jahr 2000 in Szene gesetzten „Aufstand der Anständigen“ sicher sein, die Öffentlichkeit dabei hinter sich zu haben.

Rechtsstaatlichkeit und der Schutz von Grundrechten hat jedoch nichts mit einem wechselhaften Zeitgeist und politischen Moden zu tun. Wie auch schon in anderen Fällen machten die Verfassungsrichter deutlich, daß es vom Grundrecht der Meinungsfreiheit auch gedeckt sein muß, selbst politische Meinungen zu äußern, die den „Wertsetzungen“ des Grundgesetzes nicht entsprechen, also sogar extremistisch sind. Die Verwunderung in Kommentaren linker Zeitungen oder Forderungen nach Gesetzänderungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit von Politikern der Grünen und der SPD machen deutlich, wie nahe wir in der Verfassungswirklichkeit bereits einem Gesinnungsstaat gekommen sind.

Karlsruhe bekräftigt zur Überraschung der Gesinnungswächter des „Kampfes gegen Rechts“, daß das Grundgesetz „Werteloyalität“ nicht erzwingen will. Das hätte mancher wohl gern. Die Richter machen hingegen deutlich, daß in einer Demokratie die Auseinandersetzung über strittige Meinungen nicht Sache der Gerichte, sondern der Öffentlichkeit ist. Ansonsten wäre dies auch das Ende der Demokratie.

Der eigentliche Skandal ist eine Generation von Richtern, die an ordentlichen Gerichten den Ton angibt und deren Denken im Ernstfall nicht mehr rechtsstaatlich, sondern gesinnungsstaatlich geprägt ist. Sie fällen politische Gesinnungsurteile und sind zur Abwägung der zu schützenden Grundrechtsgüter nicht mehr willens oder in der Lage.

Wir leben in einer Zeit des Verfalls der Rechtsstaatlichkeit – und Karlsruhe erweist sich hier als letztes Bollwerk. Wie lange noch?

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