© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Nie wieder Verlierer sein
Ideenwechsel: Auf der Suche nach der tieferen Ursache für das gestörte deutsche Selbstverständnis
Frank Lisson

Wer die Meldungen und Bilder der Veranstaltungen zum 13. Februar in Dresden verfolgt hat, wurde einmal mehr daran erinnert, wie geistig beschädigt dieses Land ist. Angesichts des massiv gestörten deutschen Selbstverständnisses, genügt es nicht, nur die Symptome zu benennen. Vielmehr muß immer wieder danach gefragt werden, wie das Phänomen zu erklären ist. Denn völker- oder sozialpsychologisch deutet alles auf eine ausgewachsene Psychose hin.

Die Vermutung, die „deutsche Krankheit“ sei allein Folge des verlorenen Krieges oder der NS-Todesmaschinerie, greift zu kurz. Denn auch andere Völker haben Kriege verloren und sich schwerer „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ schuldig gemacht, ohne daß sie kollektiv vergleichbare Störungen aufwiesen. Außerdem richtet sich das „Nie wieder Deutschland“ nicht bloß gegen die mythologisierten zwölf Jahre, sondern gegen jede Form eines nationalen Selbstbehauptungswillens. Deshalb müssen die tieferen Ursachen anderswo zu suchen sein.

Natürlich wirken fundamentale Zusammenbrüche wie der von 1945 stets traumatisierend auf ein Volk. Zumal, wenn es traditionell zum Selbsthaß neigt wie die Deutschen. Von den europäischen Großmächten lange kleingehalten oder zur Beute degradiert, entwickelten sie im 19. Jahrhundert einen radikalen Trotz im Politischen, der ihnen schließlich zum Verhängnis wurde. Heiner Müller hat die Situation der Deutschen im 20. Jahrhundert und die daraus resultierende Katastrophe einmal ganz treffend pointiert: „Hundert Jahre zu spät und dann auch noch in die falsche Richtung.“

Nationalkulturen vollzogen eine Kursänderung

Ein weiterer, kaum beachteter Aspekt kommt hinzu. Wie reagieren geistig geprägte Nationalkulturen, wenn sie nach einer moralischen wie militärischen Totalniederlage begreifen müssen, daß sie „ihren“ Krieg nicht nur gegen andere Mächte, sondern vor allem gegen eine sich überall auf der Welt siegreich ausbreitende Idee, also gegen eine „historische Tendenz“ verloren haben? Werden sie sich daraufhin nicht zu schämen beginnen, wie reuige Sünder, die zu lange „falschen Göttern“ huldigten? Und werden sie nicht alles tun, um diesen politisch-moralischen „Irrtum“ wettzumachen und fortan als jemand zu gelten, der für dergleichen „Verfehlungen“ nie wieder anfällig sein wird?

Vielleicht basiert der deutsche Ekel an der eigenen Geschichte weniger auf der „Täterschaft“, als vielmehr auf dem Versäumnis, frühzeitig die historische Tendenz, den „Weltenwechsel“ erkannt zu haben. Deshalb gibt es hierzulande so viele Parvenüs der Moral, die den Trendsettern der Geschichte beweisen müssen, „ganz vorne“ zu sein. Denn der radikale „Ideenumbruch“ des 20. Jahrhunderts richtete sich in erster Linie gegen die Träumer und verspäteten Verteidiger überholter Weltvorstellungen. Schließlich konnten bereits 1919 scharfsinnige Historiker wie Eduard Meyer oder Friedrich Meinecke (wenngleich unter größtem Bedauern) die globale Entwicklung nicht leugnen, die sie zu dem Urteil kommen ließ, daß es mit der „Autonomie der Staaten und Nationen, weltgeschichtlich gesehen, nun einmal vorbei“ sei.

Der „Ideenumbruch“ ereignete sich, als die bis dahin äußerst eigennützig und selbstherrlich auftretenden Nationalkulturen eine entscheidende Kursänderung vollzogen, indem sie mit ihren „imperialistischen“ Werten brachen. Aus Eroberern wurden Berater, aus Herren Partner, aus Abenteurern Touristen. Dieser „Prinzipienwandel“ erfordert auch Generationen später noch eine Art innerer Rechtfertigung: Welchem Wahn hingen wir an, als wir noch nicht die waren, die wir heute sind? Denn daß es bloß ein Wahn gewesen sein muß, belegt sein plötzliches Verschwinden.

Natürlich blieben die Menschen charakterlich oder typologisch stets die gleichen. Doch die alten Fähigkeiten und Eigenschaften erhielten ein neues Aufgabenfeld, als der Europäer sich dem „Guten“ zuwandte, nachdem er erkannt hatte, wie „böse“ er war. Das heißt, nicht der Mensch änderte sich, sondern nur sein Tun.

Wer nun andauernd an die Macht der „falschen Götter“ gemahnt, will damit den „neuen Göttern“ und also endlich auch sich selbst wieder gefallen. Doch solange noch Menschen existieren, die sich den notwendigen Konsequenzen aus der verruchten Erbschaft verweigern, kann es keine kollektive „Erlösung“ geben. Denn jeder wirklich fundamentale Ideenwechsel verlangt, die vorangegangene Welt komplett zu verdammen. Eine „Unschuld“ jener Welt ist dann nicht mehr möglich. Selbst alles Große, Schöne und Gute, das von ihr ausging, muß dem Fluch gleichermaßen verfallen. Zuletzt bleiben von der alten Welt nur noch Verzerrungen, die das Überwundene bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln, damit sich dessen „böser Geist“ nie wieder erheben kann. Es dient dazu, das Alte vom Neuen, also das Ungültige vom Gültigen abzugrenzen.

Wer daraufhin noch das Verdammte berührt, sich mit ihm in neutraler Absicht befaßt, es womöglich sogar gegen seine Pauschalverurteilung und damit über die Zeit „retten“ will, hat den gesamten Apparat, die gesamte „historische Tendenz“ gegen sich. Denn er steht vor „gedrehten Menschen“, die sich ihrer „Drehung“ so wenig bewußt sind, wie sie sich ihrer alten Anschauungen und Denkweise wirklich bewußt waren. Derartige Wandlungen vollziehen sich wie Lebensphasen oder Moden: man wächst in sie hinein, ohne selbst Einfluß darauf zu haben.

Parallelen zur frühen römischen Kaiserzeit

Was sich mentalitätsgeschichtlich im 20. Jahrhundert unter den „entwickelten Völkern“ und besonders unter den Deutschen ereignete, legt eine Parallelisierung mit dem radikalen Ideenwechsel nahe, wie er sich (allmählich) in der frühen römischen Kaiserzeit vollzog. Verunsichert durch den Haß, der den imperialen Römern in fast allen Provinzen entgegenschlug, je mehr sich ihre Herrschaft in der antiken Welt ausbreitete, wuchs unter zahlreichen römischen Intellektuellen das Gefühl eines „nationalen Schuldigseins“. In seiner Geistesgeschichte des antiken Christentums schreibt Carl Schneider: „Sallust deckt in schonungsloser Wahrhaftigkeit Roms Verbrechen auf, von ihm stammt der für Augustin so wichtige Gedanke, daß Rom noch für die Vernichtung Karthagos zu büßen habe. (…) Dazu trat die jüdische Literatur mit ihrem maßlosen Romhaß, (…) Doch auch maßvolle Römer wurden unsicher: Seneca, Plinius, Tacitus, Juvenal, Marc Aurel und viele andere werden von tiefem Zweifel an der Rom­idee gequält.“

Daß die Römer „Barbaren“ seien und daß ihr Imperium der Welt vor allem Terror und Unterdrückung gebracht habe, wurde nicht nur von vielen Griechen so empfunden. Es fand seinen stärksten Verbündeten in den Anhängern des „einen Gottes“. So schreibt Harald Fuchs in „Der geistige Widerstand gegen Rom“: „Das antike Judentum hat die Feindschaft gegen Rom grundsätzlich niemals überwunden. Durch die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels war sie vollends unversöhnlich geworden.“

In einer ganz ähnlichen geistig-moralischen Situation befindet sich Europa, seitdem der Wille zum Selbsterhalt durch die Scham davor abgelöst wurde. Die Deutschen hatten sich am entschlossensten an die Zerstörung dessen gewagt, was sie später um so stärker bestimmen sollte: das Kosmopolitische. Wie die Ausbreitung des jüdischen und des christlichen Glaubens die antike Moral verdrängte, beendete der Verzicht auf Geltung die abendländische Selbstherrlichkeit.

Beide Entwicklungen markieren einen radikalen Trendwechsel im Denken der davon betroffenen Gesellschaften. Folge war eine entsprechende „Siegerhysterie“, die solange anhält, bis die Erinnerung an das Wesen der alten Moral vollständig aus den Köpfen getilgt ist.

Das Alte, Feindliche, Überwundene muß in seiner „wahren Gestalt“ vergessen werden, um das Neue nicht zu gefährden. So dauerte es gut tausend Jahre, bis sich das Abendland seiner antiken, heidnischen Wurzeln wieder erinnerte. Die Institutionen der neuen Moral, die Kirchen, hatten alle Spuren vernichtet oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das gleiche droht im 21. Jahrhundert den Spuren der abendländischen Eigennützigkeit: Die Interpretationen der jeweiligen Tendenz legen sich über die Ereignisse, so daß nur noch die Deutungen sichtbar sind, nicht aber die Dinge selbst.

Wer dem Trend angehört, ist moralisch immer im Recht. Deshalb darf derjenige, der außerhalb der Tendenz steht, auch nicht auf „Gerechtigkeit“ hoffen. Ideenwechsel sind stets mit großen Ungerechtigkeiten verbunden, weil es nicht im Interesse der neuen Meinungsführer liegt, Rücksicht auf die alten zu nehmen. Denn schließlich geht es nie um „Wahrheit“, sondern immer nur um Deutungshoheit, also um Macht. Und über die verfügt, wer gemäß der herrschenden Tendenz denkt und handelt.

Die Deutschen sind im 19./20. Jahrhundert zu besessen gewesen von einer Idee, die sich, als sie ihr verfielen, weltgeschichtlich bereits überholt hatte. „Nie wieder Deutschland“ heißt in diesem Zusammenhang auch: Nie wieder einer verlorenen Sache anhängen, nie wieder Verlierer vor der Geschichte sein, sich nie wieder einer kommenden historischen Tendenz entgegenstellen.

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