© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Einstürzende Welten
Leben und Sterben der Hypatia: Das Epos „Agora“ entführt in die Spätantike
Harald Harzheim

In „Agora“ variiert der chilenische Regisseur Alejandro Amenábar eines seiner Leit-Sujets: die einsame Heldin, die (vergeblich) gegen den Wahn einer eskalierenden Welt kämpft, so bereits in „Tesis“ (1996) und „The Others“ (2001). Diesmal ist es die historische Philosophin Hypatia, die im 4. Jahrhundert als Astronomin in Alexandrias legendärer Bibliothek dozierte – und deren Untergang erleben mußte.

Amenábars „Biopic“ (Filmbiographie) ist die bislang teuerste spanische Filmproduktion, mit einem 50-Millionen-Euro-Budget ernstzunehmender Konkurrent für Hollywoods Monumentalfilme wie „Gladiator“ und „Troja“. In Cannes 2009 uraufgeführt, gewann „Agora“ bei der Goya-Verleihung 2010 in Madrid den begehrten Preis gleich in acht Kategorien.

Auch hier erwacht eine antike Metropole in riesigen, computeranimierten Kulissen zu neuem Leben. Aber „Agora“ bricht mit zahlreichen Axiomen kommerzieller US-Dramaturgie, durch das völlige Fehlen einer Liebesgeschichte beispielsweise. Hier gibt es nur gescheiterte, unterdrückte Emotion, die in Schwermut oder Gewalt eskaliert. Das allerdings ist der Historie geschuldet, denn die authentische Hypatia, deren Schicksal zahlreiche Dichter der Romantik faszinierte, soll – laut Quellenangaben – als Jungfrau gestorben sein. Dazu liefert das Drehbuch als Erklärung: Eine verheiratete Frau durfte damals in der Öffentlichkeit nicht mehr auftreten. Unvorstellbar für eine leidenschaftliche Forscherin wie Hypatia.

Die britische Oscar-Preisträgerin Rachel Weisz – seit „I want you“ (1998) und The Constant Gardener“ (2005) auf tragische Rollen abonniert – gestaltet Hypatia in der Tradition englischer Romantik nach Lord Byron, kombiniert tragische Größe und seelische Tiefe mit einem gefährlichen Defizit – der übermäßigen Sehnsucht nach Harmonie und Reinheit. Die sucht sie in der Astronomie: „Die Sterne sind ihr Sex“ (R. Weisz). Wenn Hypatia, in der Blüte ihrer Schönheit, junge Studenten unterrichtet, spürt man den unterdrückten Eros bei den Wißbegierigen. Einem verliebten Schüler schenkt sie ihre blutige Binde, als Schocktherapie, damit er Schönheit und Harmonie nicht bei ihr, sondern in der Musik suche.

Parallel zu diesem Triebstau ballen sich Wut und Haß in der Stadtbevölkerung. Auf der Agora, dem öffentlichen Platz, verlachen Christen die ägyptischen Götter. Ein Konflikt, der bald eskalieren wird: Die alexandrinischen Priester entsenden ein Mordkommando zu den Spöttern. Eine Gewaltorgie bricht aus, bei der beide Seiten im Blutrausch versinken. Regisseur Amenábar spart in den Gemetzelszenen detailfreudige Nahaufnahmen weitgehend aus. Langsam, fast melancholisch umkreist seine Kamera die mordende Menge, untermalt mit Trauergesängen.

Als die Christen schließlich die Bibliothek stürmen, wissen sie den – selbst zum Christentum konvertierten – römischen Kaiser hinter sich. Alexandrias Stadtherren, unter römischer Vorherrschaft, müssen die Aufständischen gewähren lassen. Sie zerstören das Zentrum einer untergehenden Wissensgesellschaft. Hypatia versucht verzweifelt, einige Skripte zu retten. Wieder zeichnet der Film ihr Handeln und das Schicksal der verlöschenden Antike parallel: Während die Christen die alte Weltordnung erschüttern, bringt die Astronomin das ptolemäische Weltbild zum Einsturz. Gestützt auf die Schriften des Aristarchos beweist sie den heliozentrischen Kosmos. Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler hätte „Agora“ aufgrund solcher Parallelsetzung vermutlich gemocht.

Das Christentum, bevor es zur Staatsreligion wurde Agape (Nächstenliebe) durch Armenspeisung praktizierend, mutiert zur brutalen Diktatur, es kommt zu einem blutigen Pogrom gegen die Juden, frühere Würdenträger werden zur Taufe gezwungen. Eine Spirale der Gewalt und Angst beginnt, die einst blühende Stadt wird zur großen Ruine. Mönche kontrollieren den Einhalt strenger Sittenregeln, Frauen müssen züchtig gekleidet gehen.

Anspielungen auf islamischen Totalitarismus sind zu vermuten, aber die Regie warnt vielmehr vor jeder absolutistischen Ideologie, enttarnt anhand von Hypatias Ex-Studenten das Verhalten in einer Diktatur: Korruption, Opportunismus, Mitläufertum und den Mißbrauch religiöser Texte für Machtansprüche. Dem steht Hypatia gegenüber: Als Skeptikerin keinem Glauben zugehörig, weiß sie, „daß die Menschen (letztlich) mehr verbindet als trennt“. Die Konfrontation von Anpassung und Freigeistigem zeigt, daß die Definition des Menschen als „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen), das der „Entlastung“ durch welt- und feindbildprägender „Institutionen“ bedarf – daß diese Definition ihn unter seine Möglichkeiten stellt. Nur wer die Zerreißprobe des abwägenden, unabhängigen Urteils erträgt, sich dafür zwischen alle Stühle setzt, schöpft das Potential seiner Spezie voll aus. Und das sind die wenigsten, in diesem Fall nur eine.

Mit „Agora“ ist Regisseur Amenábar ein düsterer Bilderbogen voller Gestaltungskraft und dramaturgischer Differenziertheit gelungen. Auch im Genre des Melodrams haben Regie und Hauptdarstellerin durch eine – an Schmerz und Trauer kaum überbietbare – Schlußszene neue Maßstäbe gesetzt. Wer im Kino Katharsis braucht, muß sie woanders suchen.

Übrigens sind die ägyptischen Machtverhältnisse inzwischen wieder umverteilt. Vor einigen Monaten wurden dort koptische Christen auf offener Straße getötet. Die Vorzeichen ändern sich im Lauf der Jahrtausende, die Strukturen menschlicher Machtausübung bislang nicht.

Foto: Hypatia (Rachel Weisz) vor ihrer Klasse in Alexandria: Vom christlichen Mob ermordet

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