© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/10 12. März 2010

Und es war doch ein Unrechtssystem
DDR: Verschiedene Autoren schildern ihr Schicksal im autoritären Staat der SED-Diktatur
Jörg Bernhard Bilke

Der seit Jahren anschwellenden DDR-Verklärung – nicht zuletzt durch die SED-Nachfolgepartei und ihre ideologischen Beiköche – ist es nützlich, den Blick in ein Buch zu werfen, worin in sechs authentischen Berichten der „Arbeiter- und Bauernstaat“ dort beschrieben wird, wo er am scheußlichsten war: in seinen Zuchthäusern.Fünf dieser DDR-Opfer haben mehrere Jahre in diesen „Verwahranstalten“, so die offizielle Bezeichnung, verbracht, das sechste, Chaim Noll, wurde wegen Wehrdienstverweigerung in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen.

Da ist zunächst der später als DDR-Forscher hochangesehene Karl Wilhelm Fricke, geboren 1929 in Hoym bei Aschersleben in Sachsen-Anhalt.  Er wurde 1949 schon einmal verhaftet, konnte aber über die innerdeutsche Grenze entkommen und studierte später in Wilhelmshaven und an der Freien Universität in West-Berlin. Da er nebenberuflich für Presse und Hörfunk kritische Beiträge über DDR-Zustände verfaßte, wurde er am 1. April 1955 nach Ost-Berlin entführt und am 11. Juli 1956 zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, die er in Brandenburg und Bautzen II verbrachte. In seinem Buch „Akten-Einsicht“ (1995) hat Karl Wilhelm Fricke ausführlich über sein Schicksal berichtet. Daß er nach der Haftentlassung am 31. März 1959 weiterhin und verstärkt, zuletzt 1970 bis 1994 als Redakteur beim Kölner „Deutschlandfunk“, als DDR-Aufklärer tätig war, ist nur folgerichtig.

Diese Jahre in Bautzen haben den kämpferischen Journalisten Karl Wilhelm Fricke für sein Leben geprägt. Insofern war die Entführung 1955, die ein Akt der Rache und Abschreckung sein sollte, ein politischer Fehler, weil der Gefangene nicht „umerzogen“ wurde, sondern in seiner Einzelzelle unermüdlich die „sozialistischen Klassiker“ Marx, Engels und Lenin studierte, was ihm nach der Entlassung 1959 unerhört nützlich war. In seinen Akten konnte er 35 Jahre später nachlesen, daß ihn die „Volkspolizei“ im Bautzener Strafvollzug als „unversöhnlichen und eingefleischten Gegner“ einschätzte. Ein Urteil, das wie eine Auszeichnung klingt. Heute ist seine Arbeit unentbehrlich geworden in der Bekämpfung des „linksreaktionären Geschichtsrevisionismus“, der die SED-Diktatur zum Rechtsstaat verklären möchte.

Die Journalistin Ellen Thiemann, geboren 1937 in Dresden, hat 1960 den DDR-Spitzensportler und Sportjournalisten Klaus Thiemann geheiratet, der sie 1972 der Staatssicherheit, für die er als „inoffizieller Mitarbeiter“ tätig war, auslieferte. Sie wurde zu dreieinhalb Jahren verurteilt, kam ins mittelalterliche Frauenzuchthaus Hoheneck im Erzgebirge, wurde zwei Jahre nach der Verurteilung nach Ost-Berlin entlassen, schließlich durfte sie am 19. Dezember 1975 nach Köln ausreisen, wo sie ihre Bücher schrieb. Das über die Zuchthausjahre erschien 1984 unter dem Titel „Stell dich mit den Schergen gut“, im zweiten, „Der Feind an meiner Seite“ (2005), berichtete sie, nachdem sie 1992 bei der Gauck-Behörde in Berlin ihre Akten eingesehen hatte, über das Doppelleben ihres geschiedenen Mannes als Sportreporter und Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit. Im zweiten Teil ihres Beitrags für dieses Buch beschreibt sie ausführlich die Nachstellungen durch die Staatssicherheit, denen sie auch in Westdeutschland ausgesetzt war. Daß die ständigen Überwachungen, die 1986 auch zu einem Überfall in einem Kölner Park führten, keine Hirngespinste einer verängstigten Hoheneckerin waren, dafür boten Ellen Thiemann die umfangreichen Dokumente, die ihr von der Birthler-Behörde zugeschickt worden waren, reichlich Beweismaterial.

Von ganz ähnlichen Erfahrungen schreibt die 1955 in Leipzig geborene Uta Franke in ihrem Buch „Sand im Getriebe“ (2008), woraus hier Auszüge abgedruckt sind. Sie war Mitglied eines „oppositionellen Freundeskreises“, in welchem sie verbotene Bücher wie Wolfgang Leonhards Autobiographie „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ (1955) und Rudolf Bahros schonungslose Analyse der DDR-Wirtschaft „Die Alternative“ (1978) las, wurde am 5. September 1979 verhaftet und „zur Klärung eines Sachverhalts“ mitgenommen. Nach der Verurteilung kam sie 1980 nach Hoheneck, wurde im Jahr darauf freigekauft und ging nach Köln, wo sie bis zum Mauerfall 1989 von der Staatssicherheit überwacht wurde. Was sie danach in der Gauck-Behörde an Zersetzungsversuchen gegen sie und ihren Kölner Freundeskreis als „neotrotzkistisch orientierte Feindorganisation“ dokumentiert fand, spottet jeder Beschreibung.

Bundesdeutsche Leser dieses Buches dürften schon jetzt darüber erschrocken sein, was Ellen Thiemann und Uta Franke widerfahren ist, vom Schicksal Karl Wilhelm Frickes ganz zu schweigen. Beide Frauen wollten lediglich den ungeliebten SED-Staat verlassen, was nach DDR-Gesetzen ein Verbrechen war und mit Zuchthaus bestraft wurde. Auch der 1951 in Leipzig geborenen Musikdozentin Eva-Maria Neumann, die heute an der Musikhochschule in Aachen unterrichtet, ging es nicht anders. Sie, ihr Mann und die dreijährige Tochter wurden am 19. Februar 1977 am innerdeutschen Grenzübergang Rudolphstein/Hirschberg aus dem Fluchtversteck geholt, die Tochter in ein Kinderheim gebracht, die Eltern wegen „Republikflucht“ verurteilt, die Mutter zu drei Jahren. Über diese Zeit in Hoheneck, wo sie im Drei-Schichten-System Strumpfhosen nähte, bis zum Freikauf am 26. September 1978, hat Eva-Maria Neumann unter dem Titel „Sie nahmen mir mehr als die Freiheit“ (2007) ein erschütterndes und höchst lesenswertes Buch geschrieben.

Der 1949 geborene Alexander Richter, der als Schriftsteller 25 Bücher veröffentlicht hat, wurde am 7. September 1982 in Potsdam verhaftet, zu sechs Jahren verurteilt wegen „staatsfeindlicher Hetze“ und am 30. Januar 1985 freigekauft. Heute lebt er im Münsterland und redigiert die Häftlingszeitschrift Freiheitsglocke. Das von ihm verübte „Verbrechen“ bestand darin, ein DDR-kritisches Manuskript in über 500 Einzelbriefen mit falschem Absender in die Bundesrepublik geschickt zu haben. Sein Bericht darüber, wie er durch eine unmenschlich hohe Strafe zum Schweigen gebracht werden sollte, besticht dadurch, was er über die Zeit nach 1989/90 zu erzählen weiß. Nach der Einsicht in seine Stasi-Akten nämlich erhielt er eine Liste mit Namen und Anschriften der MfS-Offiziere, die an seiner Verurteilung mitgewirkt hatten. Und er ist mutig genug, sie der Reihe nach aufzusuchen. Kargen Erfolg freilich hatte er nur bei einem Major, der ihn in die Wohnung bittet, dort aber einsilbig bleibt und, trotz schweißnasser Stirn, kaum Reue zeigt, auch wenn er ständig die Augen niederschlägt.

Chaim Noll, der 1954 als „Hans Noll“ in Ost-Berlin geborene Sohn des DDR-Schriftstellers Dieter Noll, der 1984 ausgebürgert wurde und seit 1995 in Israel lebt, bietet in seinem Beitrag über die „neue Klasse“ eine scharfsinnige Analyse der SED-Nomenklatura. Er hat er in seinem ersten Buch „Der Abschied. Journal meiner Ausreise aus der DDR“ (1985) eindruckvoll geschildert, wie er in einem kommunistischen Elternhaus aufgewachsen und wie es dann zum Bruch mit der Ideologie des Marxismus-Leninismus gekommen ist. Er kennt auch die Dissidentenliteratur und hat das Buch des jugoslawischen Kommunisten Milovan Djilas „Die neue Klasse“ (1957), das vor einem halben Jahrhundert hohes Aufsehen erregte, gelesen. Sein Beitrag ist eine Art Fazit, das er aus den fünf Erfahrungsberichten zieht, wobei er bedauert, daß „der Westen“ offensichtlich nicht lernfähig ist: „Mit Erstaunen beobachten wir ihr unheimliches Überleben, ihre Wirksamkeit in den Strukturen des Westens, ihr allmähliches Eindringen in die Welt der demokratischen Freiheiten, mit Erstaunen und einiger Beklommenheit, wir, die wir mit ihnen aufwuchsen und uns von ihnen abwandten, in einem Entsetzen, das heute kaum noch jemand teilt.“ 

Uta Franke, Karl Wilhelm Fricke, Constantin Magnis, Eva M. Neumann, Chaim Noll, Alexander Richter, Ellen Thiemann: Der lange Arm der Stasi. Folter, Psychoterror, DDR-Nostalgie. Persönliche Zeugnisse, Vorwort von  Constantin Magnis. MM-Verlag, Aachen 2009, gebunden, 224 Seiten, 18 Euro

Foto: Die DDR war nicht so harmlos wie das Ampelmännchen: Da das himmelschreiende Unrecht nur eine Minderheit unmittelbar zu spüren bekam, finden die Nostalgiker und Leugner heute leicht Gehör

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