© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Kolumne
Im Zeichen neudeutscher Dekadenz
Wolfgang Ockenfels

Wer sich selber einen Heiligenschein aufsetzt, zieht sich den Vorwurf der Scheinheiligkeit zu. Der altkluge Hinweis indes, die Kirche sei im Verhalten ihres Personals „nicht unfehlbar“, ist müßig, weil evident. Er berührt nicht den dogmatischen Unfehlbarkeitsanspruch, wohl aber die moralische Glaubwürdigkeit. Das ist tragisch für das Ansehen einer Institution, deren moralischer Anspruch die gelebte Wirklichkeit übersteigt. Tragisch übrigens für jede Institution, deren hoher Anspruch die miserable Wirklichkeit zu korrigieren versucht.

Die Vorwürfe des Kindesmißbrauchs zielen besonders auf die katholische Kirche, treffen aber nicht weniger die anderen konfessionellen, gesellschaftlichen und staatlichen Erziehungseinrichtungen. Die Kriminalstatistik belehrt uns, wie wenig die Gesellschaft Jesu – und wie stark die Gesellschaft insgesamt in diese Schande verstrickt ist. Daß nun gerade katholische Erzieher moralisch diskreditiert, in Sippenhaftung genommen und weichgeklopft werden sollen, hängt mit einer Aufklärung zusammen, die nichts mehr mit Transparenz oder Gerechtigkeit zu tun hat.

Zur Diskreditierung der Kirche hat man sie schon in früheren Zeiten an ihren offenen und weichen Flanken angegriffen. Sex und Geld haben sich seit jeher als geeignete Stichwörter erwiesen, mit denen man die Kirche aufspießen kann. Das wußte vor allem das kirchenfeindliche NS-Regime zu nutzen, als es nach 1936 eine Serie von Sittlichkeits- und Devisenprozessen gegen Priester inszenierte.

Kürzlich redete ein Politiker, der es besser wissen müßte, von „spätrömischer Dekadenz“ und meinte damit die Nutznießer des Sozialstaats. Mit Blick auf die dekadente Spätphase der griechischen und römischen Antike wäre es freilich zutreffender gewesen, auf die damals grassierende, literarisch verklärte Pädophilie hinzuweisen. Und daran zu erinnern, daß es vor allem die Kirche war, die mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern aufräumte.

Das rechtliche Mißbrauchsverbot bedarf nach wie vor der moralischen Absicherung seitens der Kirchen. Besonders von ihnen erwarten wir Widerstand gegen die massenmediale Verführung von Minderjährigen, gegen kinderpornographische Angebote und Lolita-Verklärungen. Wie hießen doch noch die grün-liberalen Verteidiger dieser neudeutschen Dekadenz in den 68er-Jahren? Cohn-Bendit ist jetzt peinlich berührt, die damaligen Enttabuisierer sind abgetaucht – und suchen fleißig nach Sündenböcken.

 

Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels ist Publizist und Professor für christliche Sozialethik an der Theologischen Fakultät Trier

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen