© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Konservative Zeitgeistsegler
Großbritannien: Trotz der bevorstehenden Unterhauswahlen greifen die oppositionellen Tories des Tabuthema Einwanderung nicht auf
Derek Turner

Seit Jahrzehnten war das Thema Zuwanderung nicht mehr so heiß umkämpft. Dank der Erfolge der rechten British National Party (BNP), die zwei Sitze im Europaparlament und knapp hundert in Stadt- und Gemeinderäten hat, kann die Politik das Thema nicht mehr ignorieren. Seit 1997 hat Großbritannien drei Millionen legale Einwanderer aufgenommen. Über die Illegalen liegen naturgemäß keine zuverlässigen Zahlen vor. Schätzungen der Statistikbehörde sagen bis 2029 einen Bevölkerungszuwachs um nahezu zehn auf siebzig Millionen voraus. Das bedeutet nicht nur eine enorme Belastung für die öffentlichen Finanzen, die Infrastruktur, das Stellen- und Wohnungsangebot – diese Entwicklung gefährdet zunehmend auch die Rede- und Versammlungsfreiheit.

In den vergangenen Monaten machte die Einwanderung Schlagzeilen: Die Sunday Times berichtete, die zuständigen Beamten seien von der Labour-Regierung „ermuntert worden“, bei der Visumsvergabe „Risiken einzugehen“. Es folgten Enthüllungen, daß bis zu 300.000 Visumsanträge pro Jahr ohne Nachprüfung genehmigt worden seien – wofür die Verantwortlichen Leistungsboni sowie ein Lob von Einwanderungsminister Phil Woolas erhalten haben sollen. Laut dem Daily Telegraph kosten abgewiesene Visumsanträge den Steuerzahler eine Million Pfund pro Woche.

Den größten Schaden fügte der Labour-Regierung eine Nachricht vom Oktober zu. Damals enthüllte Ex-Regierungsberater Andrew Neather, daß private Treffen zwischen Ministern der Blair-Regierung im Jahr 2000 einem „dringenden politischen Anliegen“ gedient hätten, nämlich der Forderung, „Großbritannien durch Masseneinwanderung zu einem wahrhaft multikulturellen Land zu machen“. Laut Neather „zielte diese Politik darauf ab, der Rechten die Vielfalt unter die Nase zu reiben und ihre Argumente als veraltet erscheinen zu lassen“ – ein Verhalten, das Minette Marrin in der Sunday Times als „grotesk unreif und unverantwortlich“ bezeichnete. Angesichts solch weitverbreiteter Haltungen ist von führenden Labour-Politikern kaum mehr zu erwarten als die halbherzige Entschuldigung, die Premierminister Gordon Brown im Oktober aussprach, und gelegentliche Gesten wie der vage gehaltene Vorschlag des für Lokalverwaltungen zuständigen Ministers John Denham, die Regierung solle mehr Gelder in Wohngebiete mit vorwiegend weißer Bevölkerung aus der Arbeiterklasse stecken.

200 Millionen Pfund für die Antidiskriminierung

Rätselhaft ist freilich, warum es den oppositionellen Tories bisher nicht gelungen ist, wenige Wochen vor den Unterhauswahlen politisches Kapital daraus zu schlagen. Wenn mitunter davon die Rede ist, die Einwanderung zu beschränken, werden weder Zahlen genannt noch Details erläutert, wie dies ohne einen EU-Austritt zu bewerkstelligen wäre. Ganz offensichtlich leiden die Konservativen noch immer unter dem Trauma, jahrelang als „nasty party“ (häßliche Partei) zu gelten, und können sich nicht einmal überwinden, die dringend benötigte Reform der Einwanderungspolitik in unmißverständlicher Sprache anzumahnen, geschweige denn mit den Befürchtungen der Menschen zu sympathisieren, die den revolutionären Gesellschaftswandel am eigenen Leib zu spüren bekommen. Statt dessen bezeichnete Tory-Chef David Cameron, der gute Chancen hat, zum neuen Premierminister gewählt zu werden, den BNP-Vorsitzenden Nick Griffin kürzlich als „widerwärtiges Stück Dreck“.

Konservative, die wie der 78jährige Ex-Parteichef Baron Tebbit einen Einwanderungsstopp fordern, stehen nach wie vor auf verlorenem Posten. Die Gründung einer parteiübergreifenden Arbeitsgruppe aus Unter- und Oberhausmitgliedern, darunter ein ehemaliger Erzbischof von Canterbury, die Konzepte für eine „ausgewogene Einwanderungspolitik“ erarbeiten sollte, versprach mehr, als sie letztlich hielt, beschied sie sich doch mit der Forderung, die britische Bevölkerung dürfe die 70-Millionen-Marke nicht überschreiten. Derweil nahm in Nord-London die erste staatlich finanzierte Hindu-Schule den Betrieb auf – die „erste von vielen“, wie es anläßlich ihrer Eröffnung hieß –, und die Regierung konnte ihr umstrittenes Gleichstellungsgesetz im Unterhaus mit 338 zu acht Stimmen durchdrücken.

Dieses Gesetz, mit dem Antidiskriminierungsvorschriften im öffentlichen wie im privaten Sektor „erheblich gestärkt“ werden sollen, läßt sich der von der Finanzkrise geschüttelte Staat 200 Millionen Pfund kosten. Sogar die Opposition befürwortete dieses drakonische Gesetz und forderte, daß es „wirksame Maßnahmen“ beinhalten müsse, „um energisch gegen Diskrimierung vorzugehen“, so die Tory-Abgeordnete Theresa May. Ob die BNP angesichts dessen – trotz Mehrheitswahlrechts – einen oder gar mehrere Sitze im Westminster-Parlament gewinnen kann, bleibt abzuwarten.

 

Derek Turner ist Publizist und seit 2007 Herausgeber der britischen Zeitschrift „Quarterly Review“ (www.quarterly-review.org).

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