© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Europa am Scheideweg
Den Glauben an sich selbst stärken
von Klaus Hornung

Am Ende des Zweiten Weltkriegs war „Eu­ropa“, die Idee seiner politischen Einigung, eine große Parole der Hoffnung. Sie sollte den „Dreißigjährigen Krieg“ in Europa (1914–1945), diesen europäischen Bürgerkrieg, überwinden, der zur politischen Selbstzerstörung des alten Kontinents geführt hatte, und eine neue Epoche des Friedens und der Wohlfahrt für die europäischen Völker heraufführen. Die europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) wurde der erste Schritt zur Beseitigung des jahrhundertealten deutsch-französischen Gegensatzes. Mit den Römischen Verträgen von 1957 trat die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben als Gemeinschaft der Sechs (Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Italien und der „Beneluxstaaten“) und als Kern einer künftigen Europäischen Union, die sich in der Folgezeit in konzentrischen Kreisen stetig erweiterte, beginnend mit Großbritannien und Irland im Nordwesten, fortgesetzt im Süden mit Spanien und Portugal und schließlich mit Griechenland.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gelang die Erweiterung auch nach Osten hin, von Finnland über das Baltikum und Polen bis zum Schwarzen Meer (Rumänien, Bulgarien). Mit Kroatien, Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo stehen jetzt noch die letzten südosteuropäischen Beitrittskandidaten aus der jugoslawischen Erbmasse vor der Tür. Einen Sonderfall bildet der umstrittene Beitritt der Türkei, mit der sich die Europäische Union weit über das historisch und geopolitisch umrissene „Europa“ hinaus ausdehnen würde – ein riskantes Vorhaben, für das militärstrategische Argumente sprechen mögen, dem aber auch wesentliche kulturelle, demographische und ökonomische Gründe entgegenstehen.

Dieser Erweiterungsprozeß der EU erscheint wie eine fortgesetzte Erfolgsgeschichte, die von der über Jahrzehnte anhaltenden ökonomischen Konjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg wie auch von dem überraschenden Zusammenbruch der sowjetischen Weltmacht seit 1989 begünstigt wurde. Diese Entwicklung vom anfänglichen Kerneuropa der Sechs bis zu den heutigen 27 Mitgliedstaaten schien noch an der Jahrhundertwende ungebrochen. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs konnte denn auch im Jahr 2000 bei der Formulierung der sogenannten Lissabon-Strategie Töne eines pausbäckigen Optimismus anschlagen und das Ziel einer bis zum Jahr 2010 zu erreichenden Europäischen Union als dem „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt“ proklamieren.

Aber nun zeigte sich einmal mehr, daß die Geschichte der Raum des Unerwarteten ist, der Hoffnungen zurechtrückt und neue Faktoren und Akteure überraschend ins Spiel bringt. Die globale Banken- und Wirtschaftskrise seit 2007/08 wirkte sich auch für die Europäische Union als einschneidender Rückschlag aus, und gleiches gilt für die daran anschließende schwere Schuldenkrise der Mitgliedstaaten im Mittelmeergürtel von Portugal über Spanien und Italien bis Griechenland, deren Folgen für die ökonomische und politische Zukunft der Union noch unabsehbar sind.

Der Optimismus der Lissabon-Strategie ist verflogen, die Union kämpft heute um ihre ökonomische und politische Zukunft. Die Schulden- und Währungskrise ist nicht nur auf die Mittelmeerstaaten begrenzt, sondern sie ist auch in Irland sowie bei den osteuropäischen Neumitgliedern wie etwa Ungarn und Lettland virulent. Allenthalben ist es nicht zuletzt die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gewesen, die zu einem leichtsinnigen Kurs des „Über-die-Verhältnisse-Lebens“ verführt hat.

Ein europäisches „Elitenprojekt“, das den Verlust von Akzeptanz der EU bei den Völkern zur Folge hat, ist die anhaltende Einwanderung aus Asien und Afrika, insbesondere aus islamischen Ländern, die den Charakter einer Landnahme angenommen hat.

Die meisten Sachkenner stimmen darin überein, daß die politische Entscheidung des Europäischen Rats, die Mittelmeerländer ungeachtet ihrer ökonomischen Schwächen in die Europäische Währungsunion aufzunehmen, ein kapitaler Fehler war. In der Krise offenbaren sich nun die Risiken der einstigen Entscheidung. Es zeigte sich, daß die Europapolitik weniger von einer realistischen Geo- und Wirtschaftspolitik als zunehmend von einer Prestigepolitik der politischen und ökonomischen Eliten geprägt wurde. Der allzu glatt verlaufende Erweiterungsprozeß wurde mehr und mehr zu einem riskanten Projekt, das dann in der Folge auch die Unterstützung der europäischen Bürger verlor.

Gleiches gilt für die Veränderungen des institutionellen Gefüges der EU, die zu einem steten Kompetenzgewinn der Brüsseler Europäischen Kommission führten. Die Entscheidungsträger rechtfertigen das mit der notwendigen „Vertiefung“ des europäischen Integrationsprozesses. Tatsächlich wurde aber deutlich, daß er immer mehr über die vitalen Interessen der Mitgliedstaaten und der Menschen in Europa robust hinweggeht. Die Brüsseler Kommission wurde zu einer zentralistischen und bürokratischen, demokratisch nicht legitimierten, anonymen Superregierung, umrahmt von einer Galaxie ökonomischer Lobbies, die hartnäckig ihre jeweiligen Interessen verfolgen und wenig mit europäischem Öl gesalbt sind. Die Stimmen nicht nur der Europagegner- und Skeptiker, sondern auch der Befürworter „Europas“ werden lauter, die darauf hinweisen, daß Idee und Wirklichkeit der europäischen Integration immer weiter auseinanderklaffen und die EU durch ihre steten Kompetenzausweitungen die Akzeptanz ihrer Bürger verliert.

In diesem Sinne äußerte sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1. Juli 2009 mit der Forderung, die stete Abwanderung der Souveränitätsrechte der Bundesrepublik Deutschland nach „Brüssel“ zu stoppen und einer sorgfältigeren parlamentarischen Kontrolle als bisher zu unterwerfen. Ähnlich erheben nun auch der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog und der frühere niederländische Europakommissar Frits Bolkestein ihre Stimme gegen die zentralistische Unvernunft der Europäischen Kommission und fordern die Wiederherstellung jenes Subsidiaritätsprinzips, das mit guten Gründen einst an der Wiege der Europäischen Union gestanden hatte. Es meint nichts anderes, als daß die Brüsseler Kommission nur dort tätig werden soll, wo die Mitgliedstaaten bei den Problemlösungen überfordert und „grenzüberschreitende“ Maßnahmen und Lösungen unabweisbar sind. Regelungen etwa des Personennahverkehrs, des Tempolimits oder der Feinstaubminderung in den Städten können also keinesfalls Brüsseler Aufgaben sein.

Hingegen ist eine ökonomisch vernünftige Klimapolitik, sind die Fragen der Wirtschafts-, Handels- und Agrarpolitik und nicht zuletzt die bis heute durchaus unterentwickelte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik natürliche Aufgaben der Union. Selbst der Lissaboner Verfassungsvertrag legt ausdrücklich fest, daß in den Bereichen der Industrie-, Gesundheits- und Bildungspolitik, für Jugend, Kultur und Sport die Union nur „ergänzend“ tätig werden soll; Vorschriften, die im Vertrag freilich nicht selten schwammig gefaßt sind, so daß sie den Tätigkeitswillen der aufgeblähten EU-Bürokratie herausfordern.

Ein besonders anstößiges Beispiel, ausgerechnet im sensiblen Grundrechtsbereich, findet sich schließlich in dem von der EU-Kommission besonders forcierten „Antidiskriminierungsgesetz“, das in eklatanter Weise einen Fall der an den Menschen und der Alltagsrealität vorbeigehenden Brüsseler „Elitenprojekte“ darstellt. Das erwähnte Bundesverfassungsgerichtsurteil hat gefordert, daß insbesondere die mitgliedstaatlichen Parlamente, in Deutschland also Bundestag und Bundesrat, die Wächter dafür sind, den Mitgliedstaaten und ihrer demokratisch legitimierten Souveränität wichtige politische Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten. Auch Roman Herzog und Frits Bolkestein fordern in diesem Sinne ein striktes „Nein“ zu allen EU-Vorhaben, die gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Und sie betonen, daß der zunehmende Verlust der Akzeptanz der europäischen Institutionen bei den Menschen früher oder später zum Zusammenbruch der Gemeinschaft führen müßte.

Ein wesentliches europäisches „Elitenprojekt“, das den Verlust von Akzeptanz der Europäischen Union bei den Völkern zur Folge hat, ist die anhaltende Einwanderung aus Asien und Afrika, insbesondere aus der islamischen Weltregion, nach Europa, die den Charakter einer Landnahme angenommen hat. Um so erstaunlicher ist es, daß die EU sich bis heute nicht zu wirksamen gemeinschaftlichen Regelungen auf diesem Gebiet zusammengefunden hat. Die Zuwanderung von Gastarbeitern in die industriellen Zentren Mitteleuropas infolge eines wachsenden Arbeitskräftemangels hat sich seit dem ökonomischen Boom in Europa in den siebziger Jahren zu einer Dauer-Zuwanderung aus Asien und Afrika gesteigert; aus der Türkei nach Deutschland, aus Nordafrika nach Frankreich, nach Großbritannien und den Niederlanden aus deren ehemaligen asiatischen Kolonien.

Europa wurde zu einem Einwanderungskontinent, was einflußreiche Teile der europäischen Funktionseliten in Wirtschaft, Politik und Medien und nicht zuletzt die linken und linksliberalen Meinungsführer lautstark begrüßen, als ob es sich hier um einen einmaligen Glücksfall handele. Multikulturalität wurde zu einem verbreiteten Schlagwort, das die einen mit ökonomischen und arbeitsmarktpolitischen Gründen, die anderen aus ideologischen Motiven rechtfertigen, obwohl dadurch eine tiefgreifende kulturelle Umprägung des alten Kontinents absehbar wird.

Die Migration nach Europa wurde jedenfalls zu einem wesentlichen Faktor der Entfremdung der politischen, wirtschaftlichen und medialen Kommandohöhen von den Interessen und Wünschen breiter Schichten der einheimischen Bevölkerung. Und jene unternehmen alles, ihren Kurs in der Einwanderungsfrage mit den Methoden einer illiberalen Political Correctness und selbst mit den Mitteln der Strafgesetze durchzudrücken und die Ablehnung der Einwanderung in der Bevölkerung mit durchsichtigen Parolen als Fremdenfeindschaft, Rassismus, wenn nicht als Faschismus moralisch-politisch zu diskreditieren. Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden (2005) lehnten mit dem Lissabon-Vertrag sowohl den Zentralismus als auch die Einwanderungspolitik ab und zeigten den Grad der Mißstimmung und der sinkenden Akzeptanz in den Völkern, die am Beginn das Projekt Europa mit Enthusiasmus unterstützt hatten.

Wir Europäer stehen heute vor der geschichtlichen Entscheidung, ob wir willens und in der Lage sein werden, uns für die Überlebenswerte unserer Kultur einzusetzen oder ob für uns das Wohl des einzelnen im bloßen Hier und Jetzt an erster Stelle steht.

Anders als die Kommandohöhen hat die Mehrheit der Europäer begriffen, daß die Europäische Union durch ihre Hinnahme der Einwanderung aus außereuropäischen Kulturen selbst dabei ist, das Bett für einen künftigen „islamischen Westen“ vorzubereiten. Auch der bedeutende amerikanische Islamwissenschaftler Bernard Lewis hält heute die Islamisierung Europas bis zum Ende des 21. Jahrhunderts für eine realistische historische Perspektive angesichts der begonnenen Konfrontation zwischen der kulturell und demographisch stoßkräftigen islamischen Kultur und einem Abendland, dessen Bewohner vielfach den Glauben an ihre überlieferte Kultur verloren haben. Ähnlich hat sich der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio in seinem Buch „Die Kultur der Freiheit“ (2005) kritisch über die Tragfähigkeit des Konzepts der Integration der Zuwanderer in Europa und Deutschland geäußert: „Warum soll er (der Zuwanderer) sich auf eine von Selbstzweifeln gekennzeichnete Kultur einlassen, die mit dem forcierten Prozeß der Modernisierung einen Großteil ihrer religiösen und sittlichen Fundamente aufgezehrt hat, deren Angebot an Lebenssinn in keinen höheren Werten als im Umher-Reisen, der Lebensverlängerung und dem Konsum liegt?“

Der amerikanische Publizist Christopher Caldwell hat soeben in seinem Buch „Reflections on the Revolution in Europa“ (Penguin Books London 2009) die Einwanderung nach Europa als einen Vorgang von revolutionärer Tragweite beschrieben, an dessen Ende ein ganz anderes Europa stehen wird, als wir es heute noch kennen. Caldwell benutzt dafür bewußt den Begriff, den einst Edmund Burke zum Verständnis der Französischen Revolution von 1789 verwendet hatte. Er läßt keinen Zweifel daran, daß der Kontinent durch die große Einwanderungswelle in eine vergleichbare revolutionäre Situation geraten ist. Damals war es eine folgenreiche innereuropäische Revolution. Heute handelt es sich um eine entscheidende Probe auf die kulturelle Stärke oder Schwäche des Kontinents im internationalen Konfliktfeld.

Caldwell sieht die Europäer vor der geschichtlichen Entscheidung, ob sie willens und in der Lage sein werden, sich für die Überlebenswerte („survival values“) ihrer Kultur einzusetzen oder ob für sie das Wohl des einzelnen, sein „well-being“ im Hier und Jetzt an erster Stelle steht, das Wohlergehen der heute lebenden Generation auf Kosten der Zukunft und Dauer ihrer überlieferten Kultur. Die Europäer müßten erkennen, daß sie sich an einem historischen Scheideweg befinden: ob ihr Kontinent sich in der multipolaren Welt von morgen behaupten will und kann oder ob er sich aus der Geschichte abmeldet, die dann mit neuen Akteuren und auf neuen Wegen ihren Fortgang nehmen wird.

 

Prof. Dr. Klaus Hornung lehrte Politikwissenschaft an der Universität Hohenheim. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Konservatismus in den USA („Suche nach den großen Wahrheiten“, JF 14/09).

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen