© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Der letzte Samurai
Shakespeare aus dem Osten: Dem Regisseur Akira Kurosawa zum Hundertsten
Martin Lichtmesz

Als Akira Kurosawa 1998 im Alter von 88 Jahren starb, hatte nicht nur das japanische Kino seinen „Tenno“ und seinen „letzten Samurai“ verloren. Daß Kurosawa zu den herausragenden Künstlern des 20. Jahrhunderts zählte, darüber waren sich nicht nur Publikum und Kritik einig, sondern auch und vor allem die Kollegen seiner Zunft, die ihn weltweit als Vorbild verehrten wie keinen anderen. „Was Kurosawa von anderen Regisseuren unterscheidet“, sagte Francis Ford Coppola, „ist, daß er nicht bloß ein oder zwei Meisterwerke geschaffen hat, sondern mindestens acht.“

Der „Kurosawa-Schock“, der mit einem Schlag den japanischen Film im Westen etablierte und für immer die Filmkunst veränderte, kam 1950 während der Filmfestspiele in Venedig. „Rashomon“ erzählte eine Geschichte aus dem Mittelalter gleich dreimal: ein Samurai wird überfallen und getötet, seine Frau vergewaltigt. Doch sowohl der Bandit als auch die Frau und der aus dem Jenseits beschworene Geist des Ermordeten präsentieren dem Gericht drei jeweils völlig unterschiedliche, einander ausschließende Versionen des Tat-hergangs. Wer von den dreien sagt die Wahrheit?

Die komplexe Rückblendenstruktur des Films erhielt eine zusätzliche Dimension durch eine Rahmenhandlung: Drei Männer finden bei strömendem Regen beim Festungstor der Stadt, dem „Rashomon“, Unterschlupf und debattieren über den Sinn der verworrenen Dreiecksgeschichte. Ein traditioneller Stoff, eine kühne Form und eine moderne Sensibilität verbanden sich in „Rashomon“ zu einem Klassiker, der bis heute seine Wirkung bewahrt hat.

In den nächsten Jahrzehnten repräsentierte Kurosawa weltweit das japanische Kino schlechthin. Seiner Wirkung kam dabei zweifellos zugute, daß er wie kein anderer Regisseur Japans westliche Einflüsse in sein Werk integrierte: während seine filmischen Lehrmeister John Ford, William Wyler und Frank Capra hießen, adaptierte er Dostojewskij („Der Idiot“, 1951), Shakespeare („Das Schloß im Spinnwebwald“, 1957) und Maxim Gorkij („Nachtasyl“, 1957). Umgekehrt beeinflußten seine Samurai-Filme den späten amerikanischen Western und den Italo-Western.

Der 41jährige Kurosawa, der mit „Rashomon“ scheinbar wie aus dem Nichts in die vorderste Reihe der Filmkünstler eintrat, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits elf abendfüllende Spielfilme gedreht. Geboren wurde er am 23. März 1910 in Tokio als Sproß einer altehrwürdigen, von Samurai abstammenden Familie, deren Stammbaum sich bis ins Mittelalter verfolgen läßt. Das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne spielte in Kurosawas Werk eine zentrale Rolle. Die Samurai in der Zeit ihres Niedergangs wurden später zu einem seiner bevorzugten Sujets.

Zur Filmindustrie kam Kurosawa 1936, sein Regiedebüt erfolgte bereits 1943. Seine Glanzzeit waren jedoch die fünfziger und sechziger Jahre, in denen ein Meisterwerk nach dem anderen folgte. Nach „Rotbart“ (1965), dem letzten Film mit seinem bevorzugten, kongenialen Hauptdarsteller Toshiro Mifune, erlitt Kurosawas Karriere einen tiefen Einschnitt. Sein erster Farbfilm „Dodeskaden“ (1970), heute ein Geheimtip, fiel bei Publikum und Kritik durch, der Regisseur geriet in eine massive Krise und überlebte nur knapp einen Suizidversuch. In den nächsten zwanzig Jahren entstanden nur vier Filme, darunter allerdings einige seiner gewaltigsten: „Uzala, der Kirgise“ (1975), „Kagemusha“ (1980) und die düstere „King Lear“-Adaption „Ran“ (1985). Der surreal-poetische Episodenfilm „Dreams“ (1990), produziert von Kurosawas amerikanischen Bewunderern, geriet zum Abschied vom großen Kino.

Sein bis heute populärster und zugänglichster Film bleibt zweifellos das gegen Ende des 16. Jahrhunderts spielende zeitlose Epos „Die sieben Samurai“ (1954). Die Geschichte der sieben wandernden „Ronin“ (herrenlose Samurai), die sich teils aus Abenteuerlust, teils aus Mitleid von bettelarmen Bauern anheuern lassen, um ihr Dorf gegen die Ernte plündernde Banditen zu verteidigen, ist seither oft kopiert worden, am besten gelungen in dem Western-Remake „Die glorreichen Sieben“ (1960) von John Sturges.

„Sieben Samurai“ ist so etwas wie der Tolstoi der Samurai-Filme. Während das Genre üblicherweise der Darstellung naiver Abenteuerlichkeit diente, zeigt schon die epische Länge des Films (in der Originalfassung etwa dreieinhalb Stunden), daß es Kurosawa – trotz der atemberaubenden Action-Sequenzen im Finale des Films – mehr um die detaillierte Zeichnung einer Welt mit all ihren sozialen und menschlichen Spannungen ging als um Schauwerte. Entscheidender als die äußere Handlung sind die Charaktere, die sich langsam vor dem Zuschauer in all ihren Facetten entfalten, ehe sie von dem Regisseur in ihren um so ergreifenderen Untergang geschickt werden.

In „Die sieben Samurai“ findet sich wohl am einprägsamsten eines der Grundmotive Kurosawas: Wie kann der einzelne in einer Zeit des Chaos und der Korruption, im Angesicht des Todes seine Würde, Ehre und Moral bewahren? Diese Frage stellt sich den Samurai ebenso wie dem an Krebs sterbenden Buchhalter („Ikiru“, 1952), dem Fabrikbesitzer, den die Vision eines kommenden Atomkriegs plagt („Ein Leben in Angst“, 1955) , den vegetierenden Bewohnern eines Großstadtslums („Dodeskaden“, 1970), dem Kirgisen Uzala und „Kagemusha“, dem „Schattenkrieger“. Optisch sprengt Kurosawas für die breite Leinwand gemachtes Werk jeden Fernsehschirm, inhaltlich alle Kategorien: Der Shakespeare unserer Zeit kam aus dem Osten.

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