© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Frankenstein auf der Sexmesse
Lauter soziale Notfälle: Thor Kunkel schreibt mit „Schaumschwester“ einen echten Houellebecq-Krimi
Harald Harzheim

Läse man das erste Drittel des Buches ohne Kenntnis von Autor und Titel, man riefe beglückt: „Hey, ein neuer Houellebecq-Roman!“ Die Indizien sind eindeutig: Erstens, das Scheitern der Spezie Mensch am Eros, dessen Schreckpotential durch die sexuelle Revolution 1968ff. ans Licht kam; zweitens, der daraus resultierende Lebensekel, der schließlich zur Schöpfung des Androiden führt – so in „Elementarteilchen“ (1998) und „Die Möglichkeit einer Insel“ (2005); drittens, ein abgebrühter Protagonist mit verkorkstem Beziehungsleben. Der wünscht den Homo sapiens in den Abfalleimer. Und das Ganze spielt in Frankreich (Nizza). Ergo, alle Zutaten vorhanden.

Dann aber entpuppt sich der Schreiber als begnadeter Krimiautor, der Houellebecqs Endzeit-Motive zu einem – wirklich spannenden – Reißer verarbeitet. Der Name des Autors: Thor Kunkel, dem vor sechs Jahren mit „Endstufe“ ein kleiner Literaturskandal gelang. Handelte der von pornofilmenden SS-Schurken und vergewaltigungswilligen US-Soldaten, zeigt „Schaumschwestern“ eine Sex-Apokalypse in globalem Ausmaß.   

Es beginnt mit einer Vorausschau ins Jahr 3000: Die Menschheit ist so gut wie ausgestorben. Wie das passieren konnte? Es war, so wird verraten, die Konsequenz einer Entwicklung, die in der Gegenwart begann. Unauffällig, am Rande des großen Weltgeschehens, im französischen Badeort Nizza. Dort trifft der Fabrikant Scheinberg, Erfinder und Hersteller hochentwickelter Sexpuppen, seine Aktionäre. Denen will er seine nächste Generation genetisch aufpolierter „Schaumschwestern“ vorstellen, dem „echten“ Menschen maximal ähnlich.

Aber er wird bespitzelt, von Kolther, einem altgewordenen Kryptologen. Der soll Scheinbergs Computer ergattern und das Zugangspaßwort knacken. Sein Auftraggeber: das deutsche BKA. Das ist von Scheinbergs Erfolg beunruhigt, befürchtet das Aussterben der Menschheit. Kolther, den altruistischen Motiven der Regierung gegenüber mißtrauisch, wird durch die Aussicht auf reichen Ruhestand und eine sexy Assistentin geködert. Diese studierte Kriminalpsychologin mit dem schundigen Namen Lora mausert sich bald zur unentbehrlichen Hilfe für den – zunehmend besoffenen – Kryptologen. Außerdem nutzt Kunkel sie als intellektuellen Konterpart für weltanschaulichen Schlagabtausch mit Kolther.

Angst vor Fortpflanzungsrate muslimischer Völker

Schließlich kann Kolther seine zunehmende Sympathie für Scheinberg kaum verhehlen, zumal er um die maßlose Enttäuschung der Geschlechter übereinander weiß. Schon Kolthers Seelenklempner hatte zugegeben, daß „der Sinn der Ehe die gegenseitige Zersetzung ist (…) ein aufreibender, unerfreulicher und unter Umständen lebenslänglicher Assimilationsprozeß, aus der die nächste Generation hervorgehen muß“. Nur die Wirtschaft habe noch Interesse an der Zeugung künftiger Konsumenten.

Scheinberg hingegen, der 1999 seine erste Schaumschwester auf der Sexmesse präsentierte, arbeite über das Geldscheffeln hinaus an der Erlösung der Menschheit, plane mit den Schaumschwestern eine Ganzkörperprothese gegen das Altern. Mehr noch: Die homogenen Androiden könnten eine Kollektivseele bilden. Nein, diesen wohltätigen Dr. Frankenstein dürfe man nicht aufhalten, findet der gnostische Kolther.

Als er dann noch die wahren Motive seiner Auftraggeber erfährt, bricht er fast völlig zusammen: Nicht die Sorge um die Spezie Mensch treibt das BKA an, sondern die „Angst des weißen Mannes“ (Peter Scholl-Latour) vor der hohen Fortpflanzungsrate muslimischer Völker. Deshalb wollten westliche Staaten, zur Sicherung ihrer Vorherrschaft, Scheinbergs Androiden in islamische Länder exportieren: Auf daß deren Bevölkerung auch baldigst Beziehungs- und Fortpflanzungsverweigerung praktiziere.

Heiratsfähige Androiden bereits im Jahr 2050

Nun weiß der Leser seit der ersten Seite des Romans, daß dieser Plan aufgehen und zum Aussterben der Menschheit, auch der westlichen, führen wird. Trotzdem verliert man nicht die Angst um Kolther und seine Assistentin, die bald in eine gefährliche Falle tappen ...

Bei aller Spannung und Lebensverneinung sorgen Kunkels vitale, ungekünstelte Sprache und sein satirisches Spiel mit Agenten- und Krimi-Klischees für kurzweilige Lektüre. Dazu gehören ein geheimnisvoller Motorradpolizist und James-Bond-artige Tarnaktionen; so wenn Lora sich als Android in die Aktionärsversammlung einschmuggelt. Selbst den Trash-Fans tut der Autor Gutes, als eine rollstuhlfahrende, um sich schießende Androiden-Oma die Heldin durch ein Männerklo jagt.

Kunkels Roman erscheint zu einem Zeitpunkt, wo die Vision androider Sexualpartner bereits Sachbücher füllt. So prognostiziert der Brite David Levy, Experte für künstliche Intelligenz, heiratsfähige Androiden für das Jahr 2050. Dafür sorge die fortschreitende Technik und die menschliche Neigung, sich Bezugsobjekte durch anthropomorphe Projektionen nahezubringen. In „Love and Sex with Robots“ (2007) hofft Levy auf erleichterte Paarungschancen für sozial Ausgegrenzte – wobei in Sachen Beziehung fast jeder Mensch ein sozialer Notfall ist. Womit wir wieder bei den „Schaumschwestern“ wären.  

Thor Kunkel: Schaumschwester. Matthes & Seitz, Berlin 2010, broschiert, 288 Seiten, 14,80 Euro

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