© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Exhibitionismus pur
Millionenspiel
Patrick Schmidt

Wer gedacht hat, der Hang zum geistigen Exhibitionismus bis zur Verblödung sei ein Phänomen der zahlreichen Castingshows, wird durch Chatroulette.com eines Besseren belehrt. Im Durchschnitt treffen sich auf der durch Werbung finanzierten Plattform täglich bis zu 24.000 Nutzer, die eine Mischung aus Neugierde, Langeweile und Aufmerksamkeitsdefizit miteinander chatten läßt. Durch die Einbindung einer Webcam kann der Nutzer im Sekundentakt immer neue, zufällig zugeteilte Mitspieler auf sich aufmerksam machen oder sich von ihnen demütigen lassen. Angefangen bei maskierten Egomanen, die Obszönitäten in den Äther brüllen, oder Teenies, die verlegen ihre Albernheiten vorbringen, ist Chatroulette so etwas wie das „Online-Speeddating“ für Masochisten. Gewinnen kann man nur die Gewißheit, daß es noch andere Menschen gibt, die mit ihrer im Überschuß vorhandenen Freizeit nichts anzufangen wissen. Daß diese Idee eines 17jährigen Moskauer Schülers als neue Millioneninvestition im Internet gehandelt wird, überrascht den Jungen, der lieber vor seinem Rechner sitzt, als die Schulbank zu drücken, selbst. Jetzt will er sein Unternehmen mit Hilfe der bereits Schlange stehenden Investoren ganz groß herausbringen. Ob es ihm gelingen wird? Auf Chatroulette werden wir es kaum erfahren.

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