© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Im Sauseschritt durchs Säkulum
Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Historiker Fritz Stern – Eine Grantelrevue des 20. Jahrhunderts
Marcus Pohl

Seit Wochen kennt die Begeisterung unseres gehobenen Feuilletons keine Grenzen. Dabei haben Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt und der deutsch-jüdische Historiker Fritz Stern doch lediglich ein paar Tischgespräche über ihre Erfahrungen im 20. Jahrhundert zum Druck befördert. Da die beiden alten Knaben zeit ihres langen Lebens nicht eben als öffentlichkeitsscheu und schreibfaul galten, sollte man indes meinen, sie hätten nun wirklich alles schon dreimal gesagt, was sie über Gott und die Welt so denken. Was anderes als eine überraschungsfreie Lektüre könnte den Leser demnach erwarten?

Und, das gilt es gegen die feuilletonistisch-werbewirksame Windmacherei spielverderberisch festzuhalten: exakt dies, oder fast nur dies liefert das in Statler&Waldorf-Manier grantelnde Duo über weiteste Strecken. Wenn Stern etwa Schmidt mehrfach hartnäckig mit einem Nietzsche-Zitat von 1873 traktiert, das ihm den Universalschlüssel zum „Scheitern“ deutscher Großmachtpolitik bis 1945 liefert. Demnach hätten die Deutschen halt an „Realitätsverweigerung“ gelitten. Mit solch hausbackener Geschichtsdeutung kocht der emeritierte New Yorker Professor nur die so knorrigen wie fragwürdigen Thesen seiner hierzulande bekanntesten Bücher über „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ (1961) und „Das Scheitern illiberaler Poltik“ (1974) wieder auf. Hätte er Nietzsche, den Urvater der Postmoderne und des „radikalen Konstruktivismus“ gründlicher gelesen, hätte er sich ein Licht aufstecken lassen können darüber, daß es keine Realität, sondern nur Realitäten gibt, die zu ihrer Durchsetzung Macht benötigen. Hätte das Kaiserreich 1918 den Krieg gewonnen, stünden folglich dessen Feinde heute als „Verweigerer“ der deutschen „Realität“ da.

Helmut Schmidt bleibt hinter derlei Einfaltspinseleien leider nicht zurück, wenn er beharrlich sein Mißtrauen gegenüber der vorgeblich mangelhaften demokratischen Überzeugungstreue und der daraus resultierenden „Verführbarkeit“ seiner lieben Landsleute pflegt. Als würden die handzahmen, durch viele Spül- und Schleudergänge angelsächsisch inspirierter „Charakterwäsche“ gänzlich aufgeweichten Bundesdeutschen auf einen neuen „Führer“ lauern, der ihnen wieder „Sonderwege“ wiese. Von solchem Geschwiemel geht’s dann sogar noch weiter abwärts, wenn die beiden intellektuellen Herrenreiter sich über Kaiser Wilhelm II. ereifern („Scheißkerl“, „ein großer Antisemit“).

Den Löwenanteil dieser Revue des im Sauseschritt durchhechelten Säkulums darf man sich mithin getrost schenken. Daß Schmidt, der Politiker und „Weltökonom“ außer Dienst, sich hier trotzdem wieder als analytische Potenz erweist, der seine drei Nachfolger im Kanzleramt turmhoch überragt, zu schweigen vom sonstigen derzeit agierenden Personal („wie heißt er noch, Westerwelle“), kann 2010 alles andere denn ein Trost sein. Denn Schmidt vermittelt allzu drastisch den Eindruck, daß Angela Merkel nicht einmal ahne, daß die Aufnahme der Türkei in die EU „für Europa eine Katastrophe“ wäre. Auch läßt er keinen Zweifel daran, daß sie nicht wußte, was sie sagte, als sie 2008 Deutschlands Verantwortung für Israels Sicherheit proklamierte („eine schwere Übertreibung“).

Damit, mit Israel und dem Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, schneiden Schmidt und Stern das einzige Thema an, bei dem sie beide quer zum Zeitgeist liegen und das der feuilletonistische Jubelchor daher prompt unter den Tisch fallen ließ. Dabei geriert sich der Altkanzler als halbwegs politisch korrekter Bremser, weil ihm die Sache zu „heikel“ sei und er sich mit 91 Jahren keine Feinde mehr machen wolle.

Der 1926 in Breslau als Sohn eines konvertierten jüdischen Arztes geborene, als Kind in die USA emigrierte Stern zieht hingegen ordentlich vom Leder. Ganz auf der Linie der von Schmidts Hausblatt Die Zeit als „Verschwörungstheorie“ wütend attackierten Publikationen über den maßgeblichen Einfluß einer zionistischen „jüdischen Lobby“ auf die US-Außenpolitik der Ära Bush, rückt er zunächst die Begriffe zurecht. Die vornehmlich jüdischen „Neokonservativen“ um US-Vizepräsident Richard Cheney seien gar keine „Konservativen“, sondern aggressive „Rechtsradikale“ gewesen. Auf das Konto von deren Macht- und Geldgier sei die augenblicklich so heillos verfahrene Lage im Nahen und Mittleren Osten zu buchen. Zumal aus deutscher Sicht eine höchst pikante Interpretation von Weltpolitik: Während die Kanzler Schröder und Merkel sich Steuergelder verprassend im „Kampf gegen Rechts“ tummeln, schicken sie ihre schlecht ausgerüsteten Landeskinder im Interesse „jüdischer Rechtsradikaler“ an den Hindukusch. Um dieser Pointe willen muß sich aber niemand durch ein nahezu 300seitiges Platitüdenprotokoll beißen.

Helmut Schmidt, Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch. C. H. Beck Verlag, München 2010, gebunden, 287 Seiten, 21,95 Euro

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