© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Der Beamte des Systems
Sven Felix Kellerhoff geht anhand des Falles Kurras der Einflußnahme der Stasi auf die Politik in Westdeutschland auf die Spur
Ekkehard Schultz

Kaum eine Nachricht sorgte im vergangenen Jahr für ein solch großes Presseecho wie die Mitteilung, daß der Polizist Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, seit 1955 als westlicher Spion im Dienste des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR stand. Dies ist allerdings auch wenig verwunderlich, immerhin wurde die alte Bundesrepublik durch das Geschehen an jenem 2. Juni bis heute nachhaltig geprägt. So stellte der Tod Ohnesorgs einen wesentlichen Ausgangs- und Bezugspunkt der sogenannten 68er-Bewegung dar. Ihrem radikalen Flügel diente der vermeintliche Mord durch einen Beamten des „Systems“ zur Rechtfertigung ihrer eigenen Gewalt, die schließlich in den Terror der RAF mündete. Rasch etablierte sich die Ansicht, daß neben der West-Berliner Polizei das damalige gesellschaftliche Establishment, die Springer-Presse und konservative SPD-Kreise zumindest eine schwere Mitschuld am Tode Ohnesorgs trügen. Bis heute ist diese Einschätzung auch in der zeitgeschichtlichen Literatur über die Geschichte der Bundesrepublik weit verbreitet und prägt damit die gesamte Sichtweise auf diese Epoche.

Gerade dieser Mythos dürfte dem Leitenden Redakteur für Zeitgeschichte der Welt und der Berliner Morgenpost, Sven Felix Kellerhoff, als Anlaß gedient haben, mit Hilfe der 2009 aufgefundenen umfangreichen MfS-Akten über die Tätigkeit des West-IM „Otto Bohl“ alias Kurras die Vor- und Nachgeschichte des Todes Ohnesorgs am 2. Juni 1967 detailliert zu untersuchen. Der Aufwand für diese Aufgabe war nicht unbeträchtlich, umfaßt doch allein dieser Aktenbestand, der die Grundlage für Kellerhoffs neuestes Werk „Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex“ bildet, insgesamt 17 Bände mit mehreren Tausenden Blättern. Hinzu kommen die weitestgehend noch nicht ausgewerteten offiziellen Ermittlungsakten gegen Kurras, Protokolle des Untersuchungsausschusses des West-Berliner Abgeordnetenhauses über die damaligen Vorgänge sowie die zeitgenössische publizistische Berichterstattung, die Kellerhoff ebenso heranzog.

Doch hat sich dieser immense Aufwand gelohnt und zu tatsächlich neuen, spektakulären Ergebnissen geführt? Sofern man lediglich das Kriterium anlegt, ob damit die Ursache des Todes von Ohnesorg eindeutig geklärt werden kann, wird man dies verneinen müssen. Denn weder die damaligen Ermittlungsakten noch das reichhaltige MfS-Material bringen in dieser Hinsicht Licht ins Dunkel. Warum Kurras am 2. Juni 1967 die tödlichen Schüsse auf Ohnesorg abgab und ob es sich dabei um Notwehr, einen Unfall oder einen gezielten Mord handelte, bleibt weiterhin offen.

Als relativ sicher kann lediglich gelten, daß es sich entgegen ersten Vermutungen nach dem Aktenfund nicht um eine bestellte Tat im Auftrag von Ost-Berlin gehandelt haben dürfte. Denn aus den Materialien geht klar hervor, daß Kurras’ damaliger Führungsoffizier Werner Eiserbeck von dem Ereignis selbst absolut überrascht war. Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, daß sowohl Eiserbeck als auch sein oberster Vorgesetzter, Erich Mielke, schon zu diesem Zeitpunkt aufgrund ihrer genauen Kenntnis über den fleißigen IM davon überzeugt waren, daß es sich beim Tod von Ohnesorg um einen „sehr bedauerlichen Unglücksfall“ handeln müßte.

Dieser Einschätzung stellt Kellerhoff die Meldungen entgegen, die das SED-Regime bereits wenige Stunden nach dem Geschehen als vermeintliche Wahrheit verkaufte. So verbreitete das Parteiorgan Neues Deutschland bereits am 3. Juni die Nachricht, daß die „Westberliner Polizei“ ein „Blutbad“ angerichtet und gezielt einen „26jährigen Kommilitonen durch Kopfschuß niedergestreckt“ habe. Unterschiedslos sprachen andere DDR-Blätter vom „Blutfreitag“ und vom „Notstandsmord“. Die Agitationsabteilung des Zentralkomitees der SED gab als genaue Vorgabe an die Redaktionen: „Zu den Vorgängen in Westberlin: Die Bonner Bunkerkoalition und das in der Senatsstudie zwischen Kiesinger und Albertz festgelegte Komplott zur Gleichschaltung West-Berlins mit dem verschärften Rechtskurs der Regierung Kiesinger / Strauß haben ihr erstes Todesopfer und Dutzende von der Polizei zu Krüppeln Geschlagene gefordert.“ Daß zahlreiche westdeutsche Presseorgane des linken Spektrums diese Legenden letztlich gerne übernahmen und damit für über vierzig Jahre verfestigten, ist bereits seit längerem bekannt und dokumentiert.

Weitgehend neu ist hingegen, wie sehr sich Kurras, der vermeintliche Handlanger im Dienste der Politischen Polizei im Westteil Berlins, zu diesem Zeitpunkt längst als eifriger Zuträger des SED-Regimes erwiesen hatte. Paradoxerweise ebnete diesen Weg ausgerechnet eine Haft, die er von 1946 bis 1949 wegen illegalen Waffenbesitzes im Sowjetischen Speziallager Sachsenhausen zubringen mußte. Nachdem nach seiner Entlassung deswegen die Bewerbung um Aufnahme in die mitteldeutsche Volkspolizei gescheitert war, trat Kurras im März 1950 in die Schutzpolizei im Westteil der Stadt ein. Dort wurde vermutet, daß er schon allein aufgrund dieser Vergangenheit antikommunistisch eingestellt sei. Nachdem er auf der Karriereleiter bereits um einige Sprossen nach oben gestiegen war, meldete er sich jedoch im April 1955 bei der Wache des Zentralkomitees der SED und ersuchte um Kontakt mit einem Vertreter der Staatssicherheit. Regelmäßig erfüllte er nun die mit dem MfS am 26. April 1955 geschlossene Verpflichtung, ab sofort über „Vorkommnisse aus der Stummpolizei (SED-Bezeichnung für die West-Berliner Polizei, E.S.) wahrheitsgemäß zu berichten“. Innerhalb kürzester Zeit lieferte er Namen und Adressen von zahlreichen Kollegen, die das MfS seinerseits wiederum für Anwerbungs- und Erpressungsversuche nutzen konnte.

Kurras war auf Bitte des MfS sogar dazu bereit, seine Anstellung zu wechseln und sich bei der Kriminalpolizei zu bewerben, obwohl er dort zunächst in eine niedrige Gehaltsklasse eingestuft wurde. Selbst der Mauerbau tat dem eifrigen Treiben des IM im Westen keinen Abbruch. Um seine politische Einstellung noch deutlicher zu dokumentieren, wurde Kurras 1964 nach mehrfachen Anträgen schließlich sogar Mitglied der SED. Ausgerechnet dieser Mann wurde nach dem 2. Juni 1967 von linken Gesinnungsgenossen im Westen zum vermeintlichen Werkzeug der Reaktion erklärt.

Kellerhoffs Buch ist sehr gut lesbar und dennoch keine einfache Lektüre. Dies liegt vor allem daran, daß der Autor seiner Monographie über den 2. Juni 1967 zahlreiche interessante Details aus der IM-Karriere von Kurras gegenüberstellt, die zwar grundsätzlich das gleiche Thema betreffen, aber dennoch teilweise deutlich unterschiedliche Aspekte berühren. Auf jedem Fall ist dem Autor jedoch bei seiner Einschätzung zuzustimmen, daß bis heute eine kontinuierliche Aufarbeitung des Einflusses des MfS im Westen ausgeblieben ist und es in dieser Frage dringend einer deutlich stärkeren gesellschaftlichen Auseinandersetzung bedürfte. Das vorliegende Buch könnte dafür einen weiteren Anstoß geben.

Sven Felix Kellerhoff: Die Stasi und der Westen. Der Kurras-Komplex. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2010, gebunden, 240 Seiten, Abbildungen, 21 Euro

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