© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/10 19. März 2010

Chiffre für das Ringen des deutschen Volkes
Die Geschichte Berlins in Kurzform: Der Potsdamer Historiker Bernd Stöver geht ausgetretenen Pfaden nach und zieht allzu gefällige Schlüsse
Heinz Fröhlich

Stammt der Name „Berlin“ von dem Bären ab, der das Wappen der Stadt ziert? Glaubt man Bernd Stöver, dann geht „Berlin“ auf das slawische „brlo“ zurück, welches den trockenen Bereich eines Sumpfes bezeichnet.

Im Jahr 1237 wurde Berlins damalige Schwesterstadt Cölln, die südlich der heutigen Museumsinsel lag, erstmals urkundlich erwähnt. Fast 500 Jahre vergingen, ehe die Doppelstadt Berlin/Cölln endgültig verschmolz. Spaltungen haben in Berlin eine lange Tradition; noch heutige Wahlergebnisse erinnern daran. In mancher Hinsicht enttäuscht Stövers Buch. Nur dreißig Seiten, etwa ein Viertel des Bandes, erfassen die Zeit bis 1871. Sehr knapp wird die Geschichte der Berliner Verfassung behandelt. Desto mehr interessiert den Autor die Bau- und Kulturgeschichte Berlins im 19. und 20. Jahrhundert. Letztlich analysiert Stöver nicht tief genug. Die frühen Berliner kamen aus dem Harz sowie vom Niederrhein. Mehrere Fernstraßen, in deren Schnittpunkt Berlin lag, ebenso wirtschaftliche Privilegien, die askanische Markgrafen verliehen hatten, begünstigten Handel und Gewerbe.

Wenige patrizische Familien dominierten lange das fast unabhängige Berlin. Dann kam Friedrich II. von Hohenzollern, genannt „Eisenzahn“, der Streitigkeiten der Bürgerschaft klug nutzte. 1442 unterwarf Friedrich die Doppelstadt, baute in Cölln ein Schloß, das die Berliner, deren Rebellion scheiterte, als Symbol der Zwingherrschaft hinnahmen. Im Stadtsiegel thronte nun der „markgräfliche Adler breitbeinig und mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Rücken des Berliner Bären“. Der brandenburgische, preußische, gesamtdeutsche Staat und Berlin wurden untrennbar verknüpft.

Schwer wog der Verlust politischer Freiheit; aber ein großer wirtschaftlicher und kultureller Aufschwung folgte. Stöver fragt nicht, ob diese Janusköpfigkeit die deutsche Geschichte charakterisiert und in der Ohnmacht des Königtums wurzelt, das weder Fürsten bändigte noch Städte schützte. 1871 avancierte Berlin nicht bloß, wie Stöver notiert, zur Hauptstadt des deutschen Reichs. „Spree-Athen“, der Parvenue in Europa, symbolisierte die „kleindeutsche“ Lösung der deutschen Frage. Aus diesem Grund verabscheute Hitler Berlin seit jeher. Hitler wollte auch deshalb den kultischen Mittelpunkt eines universalen „Germania“ schaffen, während Adenauer, der Berlin ebensowenig mochte, die Stadt am liebsten nach Sibirien ausgelagert hätte.

Berlin ist die Chiffre für das Ringen des deutschen Volkes um sein Selbstverständnis. Es genügt nicht, wenn Stöver die Geschichte des 20. Jahrhunderts repetiert, ohne die wichtige Rolle, die Berlin dabei gespielt hat, systematisch zu bedenken. Nach 1945 spiegelte sich Deutschlands Teilung in Berlin wider, insofern die Stadt ein furchtbares Kreuz trug, das die deutsche Frage offenhielt. Wäre ganz Berlin an die DDR gefallen, hätte es vielleicht keine Wiedervereinigung gegeben.

Völlig ideenlos wirkt die Darstellung der jüngsten Entwicklung. Deutsche Politiker ordnen ihr Land der EU unter; sie betrachten Berlin nur als formalen Regierungssitz. Daher ignoriert Stöver die Scheu der Obrigkeit, das zerstörte Gesicht der Stadt wiederherzustellen. Die Viertelruine „Neues Museum“ und das Tauziehen um den Schloßbau reden eine deutliche Sprache.

Wenn Berlin die Nation verkörperte, müßte es Kritikern der multikulturellen Gesellschaft bange werden. 1961 lebten in West-Berlin laut Stöver 20.000 Ausländer, 1989 waren es 300.000, einschließlich vieler Nichteuropäer. Diese schlichten Zahlen bedeuten den radikalsten Wandel der gesamten Berliner und deutschen Geschichte. Stövers falscher Vergleich mit der preußischen Hugenotten-Politik dient der Irreführung: „Multikulti. Berlin und die Zuwanderung“. Jene Glaubensflüchtlinge, die Stöver meint, gehörten keiner fremden Kultur an, sondern integrierten sich vollständig und waren beruflich hoch qualifiziert.

Bernd Stöver: Geschichte Berlins. Verlag C.H. Beck, München 2010, broschiert, 136 Seiten, Abbildungen, 8,95 Euro

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