© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Durchs Schöne zum Guten
Erziehung: Wer den schulischen Musikunterricht kürzt, stellt den Wert der Kultur in Frage
Ellen Kositza

Mit einem Offenen Brief an Schulsenator Jürgen Zöllner haben Berliner Dirigenten und Intendanten – an vorderster Front Sir Simon Rattle und Daniel Barenboim – jüngst gegen den Abbau des schulischen Musikunterrichts protestiert. Beklagt wird, daß der Musikunterricht in der Mittelstufe auf anderthalb oder gar nur eine Unterrichtsstunde gekürzt worden sei. Damit werde nicht nur „ein Verlust wichtiger kultureller Möglichkeiten und Traditionen billigend in Kauf genommen, sondern auch eine Nivellierung des Allgemeinwissens auf naturwissenschaftliche und ökonomische Inhalte“, heißt es in der Protestnote.

Der Generalmusikdirektor der Komischen Oper, Carl St. Clair, nimmt sein Heimatland als warnendes Beispiel. Dort, in den USA, werde seit Jahren der Musikunterricht „zusammengestrichen“. Er habe nicht damit gerechnet, daß ausgerechnet im „Land der Dichter und Denker irgendwann der Wert der Kultur in Frage gestellt“ werde: „Wer Kindern und Jugendlichen keine Kultur vermittelt, der ist dafür verantwortlich, daß eine Gesellschaft auseinanderfällt. Schaut einfach mal über den Teich. Wollt ihr das?“ So weit – so wahr und gut.

Die prominente Offensive fällt zusammen mit der Veröffentlichung einer Studie der Zeppelin Universität in Friedrichshafen über die generationsbedingte Änderung des Opernbesuchs und des Musikgeschmacks. Danach ist in den vergangenen vierzig Jahren das durchschnittliche Opernpublikum um ungefähr fünfzehn Jahre gealtert – deutlich stärker, als es dem demographischen Wandel entsprechen würde. Das Durchschnittsalter der Besucher klassischer Konzerte liegt bei 60 Jahren, Nachwuchs ist Mangelware. Noch 1997 gaben 27 Prozent der unter Dreißigjährigen an, Klavierkonzerte oder Sinfonien wenigstens zu „mögen“, heute sind es nur mehr 15 Prozent. Und das Interesse wird weiter zurückgehen. Das Klassik-Publikum „stirbt einfach aus“, meint der Kulturwissenschaftler Martin Tröndle.

Eine überschaubare jung-bürgerliche Elite leidet unter den Sparmaßnahmen. Das ist daran zu erkennen, daß es an öffentlichen Musikschulen lange Wartelisten gibt. Die staatliche Förderung dieser Einrichtungen wurde in den vergangenen Jahren gekürzt, die hervorragend ausgebildeten Lehrer arbeiten für magere Gehälter und Honorare. Von einem kulturellen Breitenangebot ist hier kaum zu reden – unterhalb eines vergleichsweise hohen Bildungsstands werden Kinder kaum zum Instrumental-, erst recht nicht zum Gesangsunterricht angemeldet. Für den Rest bleibt also der schulische Musikunterricht.

Die Musiklehre zählte bereits in den spätantiken Schulen zu den septem artes liberales, den Sieben Freien Künsten; sie war den mathematischen Fertigkeiten zugeordnet. Auch die frühmodernen Pädagogen von Johann Amos Comenius (1592–1670) bis Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) betonten den erzieherischen Wert des Singens und Musizierens, das „durchs Schöne zum Guten“ führen solle.

Im vergangenen Jahrhundert waren es vor allem Reformpädagogen wie Hermann Lietz, Alfred Lichtwark und Gustav Wyneken, die den Wert des Musizierens für „sittliche Erziehung“ und Charakterbildung des Kindes betonten – auch im Gegensatz zum „toten Buchwissen“. Gerade mit den Werken Bachs, Beethovens und Bruckners werde hier ein „geistiges Prinzip“ mit folgender „ethischer Wirksamkeit“ vermittelt. Zu dieser Zeit hob man die musikalische Bildung der Jugend in den Rang eines staatlichen Kulturauftrags. Vor ziemlich genau hundert Jahren wurden für preußische Schulen die ersten Lehrpläne aufgestellt. Die Freude am Volkslied und an „edler“ Musik sollte das Auswendiglernen eines Kanons an Volks- und Kirchenliedern ersetzen. Hinzu trat später die Musiktheorie. Die in der Zwischenkriegszeit etablierten „Reichsmusikwochen“ planten unter anderem Begegnungen zwischen Schülern und Komponisten (wie Pfitzner und Hindemith) ein.

Von solcher Ernsthaftigkeit des Musikunterrichts rückte man spätestens 1968 ab. Da hieß es dann: „Zielsetzung des Musikunterrichts in einer demokratischen Gesellschaft kann notwendig nur sein, über Musik als soziale Tatsache aufzuklären.“ Bereiche wie Popmusik, Reklame-Jingles sowie „Schallphänomene“ traten in den Vordergrund. Nicht die ästhetische Erfahrung, sondern das „alltägliche Musik-Erleben von Jugendlichen“ bildete nun den Fokus.

Vielsagend ist eine annähernd aktuelle Befragung von rund 730 Eltern in Sachsen-Anhalt durch Musikdidaktiker. Die Frage „Singen oder musizieren Sie im Familienkreis? (Wenn ja, wie oft?)“ habe man bewußt umgangen, weil die Leiter der Studie befürchteten, „darauf für uns frustrierende Antworten zu erhalten“. Statt dessen fragte man unverfänglicher: „Wie wichtig ist Musik in ihrem Leben?“, was natürlich Radiohören („die coolsten Hits der Achtziger und das Beste von heute“) und Musikvideo-Sender-Sehen einschloß. Über 90 Prozent der Eltern antworteten mit „ziemlich bis sehr wichtig“. Viva la musica!

Daß kaum damit zu rechnen ist, die Eltern oder gar die von den Stundenkürzungen betroffenen Schüler mit auf die Barrikaden der prominenten Protestler zu bringen, legte jüngst auch der Erfolg von Lena Meyer-Landrut nah. Die Gewinnerin des nationalen Eurovision-Vorentscheids („Ein Star für Oslo“) gibt an, gar kein Instrument zu beherrschen. Den schulischen Musikunterricht hat die 18jährige Abiturientin beizeiten ganz abgewählt. Die Botschaft, so wie sie verstanden werden dürfte: Sogar innerhalb des Musikgeschäfts kann eine Karriere ohne eingehende Kenntnisse des Fachs gelingen.

Theodor W. Adorno (in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, verfaßt zwischen 1938 und 1954) ging seinerzeit streng ins Gericht mit dem schulischen Musikunterricht. Es dürfe in der künstlerischen Erziehung nicht darum gehen, Menschen in „Gemeinschaften“ einzugliedern, „ihren sogenannten Spieltrieb“ per Blockflöterei zu befriedigen und sie zur „Mitwirkung an irgendwelchen gestellten Aufgaben“ zu veranlassen. Vielmehr sei es geboten, „sie dahin zu bringen, Qualitäten und Niveaus zu unterscheiden (…) und das Geistige darzustellen, das den Gehalt jedes Kunstwerks ausmacht“.

Adorno wußte nichts von gymnasialen Musikstunden, in denen per Teamwork eine Hip-Hop-Choreographie erstellt wird, Grafiken über die „Produktion einer Casting-Show“ aus dem Schulbuch abgeschrieben werden, und ebenfalls nichts davon, daß benotetes Vorsingen nach alten Hits der Ärzte und der Scorpions stattfindet. Wissen es die Unterzeichner des Offenen Briefs?

Foto: Klavierstunde: Unterhalb eines relativ hohen Bildungsstands werden Kinder kaum zum Instrumental- oder Gesangsunterricht angemeldet

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