© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Blume der Jungfrau
Politische Zeichenlehre XCV: Lilie
Karlheinz Weissmann

In dem historischen Monumentalfilm „Henri 4“ über den bon roi, den französischen König Heinrich IV., spielt sie optisch eine wichtige Rolle: die heraldische Lilie, das traditionelle Symbol der französischen Monarchie. Von der natürlichen Form dieser Blume ist die heraldische ziemlich weit entfernt. Das hat manchmal zu der Vermutung geführt, daß es sich ursprünglich gar nicht um eine Lilie, sondern um eine stilisierte Doppelaxt oder Hellebarde gehandelt habe. Aber derartige Spekulationen führen nicht weit.

Fest steht, daß lilienartige Gebilde schon in den frühen Hochkulturen als Machtsymbole Verwendung fanden. In der Welt des Christentums kam dann die Vorstellung von der – weißen – Lilie als Sinnbild der Jungfräulichkeit Marias und damit der Muttergottes (in Folge einer allegorischen Interpretation von Hohelied 2,1–2) hinzu. In diesem Sinn trat die Lilie seit dem 11. Jahrhundert vermehrt als Siegelbild geistlicher Würdenträger auf. Für die weltliche Symbolik gewann sie erst später Bedeutung.

Im Mittelalter diente eine rote Lilie (mit stilisierten Blütenstempeln) als „redendes“ Wappen von Florenz, während goldene Lilien auf blauem Feld – ursprünglich in unbeschränkter Zahl, später auf drei begrenzt, die 2 : 1 gestellt waren – als Wappen der Kapetinger, des auf Hugo Capet zurückgehenden französischen Königshauses, Verwendung fanden.

Die Überlieferung, wonach schon der Frankenkönig Chlodwig I. (466–511) eine Lilie in dem Wappen führte, das ihm nach seiner Taufe von Maria persönlich verliehen wurde, gehört ins Reich der Legende. Erst im Jahr 1211 hat ein Kapetinger die Lilie in einem Siegel verwendet, wenige Jahre später, unter der Herrschaft Ludwigs VI. und Ludwigs VII., die beide die Marienverehrung förderten und ihr Königreich dem Schutz der Muttergottes unterstellten, stieg sie zum Wappen der Dynastie auf. Auch der Dreizahl gab man später einen frommen Sinn, indem man sie auf die Trinität bezog.

Vom dynastischen wurden die Lilien am Beginn des 13. Jahrhunderts in das Staatswappen Frankreichs übernommen und erfüllten diese Funktion bis zur Revolution und dem Sturz der Monarchie. Abgesehen von der Zeit der Restauration (1814–1830) und des Bürgerkönigtums (1830–1848), die sie wieder ins Staatswappen setzten, diente die Lilie danach nur mehr als politisches Parteizeichen der französischen Royalisten. Das gilt bis in die Gegenwart und auch für die Action Française, die trotz ihrer Feindseligkeit gegen die Republik die Trikolore bejaht (und also das königliche Weiß verwirft), aber an der Lilie festhält und sie ohne jedes Beizeichen als Organisationsemblem verwendet.

Außerhalb Frankreichs hat die Lilie noch Bedeutung in der frankokanadischen Provinz Québec. Dort gehört sie nicht nur zum Provinzwappen – seit 1939 sogar in der Dreizahl, golden auf blauem Grund –, sie tritt auch in einer sehr traditionalistisch wirkenden Landesflagge nach dem Muster französischer Regimentsfahnen des 18. Jahrhunderts auf (in blauem Feld ein weißes griechisches Kreuz, in allen vier Feldern eine weiße Lilie), die 1948 eingeführt wurde.

Als das Streben der Québéquois nach größerer Autonomie in den achtziger Jahren bis an den Rand der Separation ging, waren auch Sgraffiti mit stark vereinfachter Lilie verbreitet, die als Gegenzeichen zum gesamtkanadischen Ahornblatt angesehen wurde. Das ist deshalb bemerkenswert, weil der ältere Separatismus seit dem 19. Jahrhundert eine grün-weiß-rot gestreifte Trikolore verwandt hatte, die aber weitgehend verdrängt scheint.

Am Rande dieser Hauptlinien der Überlieferung stehen noch zwei andere symbolische Rückgriffe auf die Lilie: die „Kompaßlilie“, die der Gründer der Pfadfinderbewegung, Lord Baden-Powell, als Emblem des scoutism wählte, um auf die Orientierung im Gelände wie auf dem Lebensweg hinzuweisen, und die naturalistische Lilie, die als Easter lily („Osterlilie“) für den irischen Nationalismus eine Rolle spielt.

Mit dieser Bezeichnung fand sie sich als Abzeichen von Cumann na mBan, der in den 1920er Jahren entstandenen Frauenorganisation der irischen Republikaner. Wie bei allen Bezugnahmen auf den legendären Osteraufstand von 1916 schwingt auch hier ein religiöses Moment mit, nämlich der ältere christliche Verweis der Lilie auf die Jungfrau Maria; mit weißen Lilien werden in Irland traditionell zu Ostern die Kirchen geschmückt.

Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.

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