© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Pathos oder Pathologie
Von der Stichflamme zum Flächenbrand: Berlit und Kirchner in Leipzig
Sebastian Hennig

Den Expressionismus als Fortschritt in der Kunstentwicklung, wie ihn die Kunsthistoriker im Zwielicht politischer Vorurteile nachträglich den Relikten dieser Zeit aufprojizieren, hat es nie gegeben. Die erste Phase vor 1914 („Blauer Reiter“ und „Brücke“) ist gekennzeichnet durch eine rückwärtsgewandte, weltabgekehrte Poesie. Wie schon hundert Jahre zuvor die Nazarener erstrebt man die ursprüngliche, unkonventionelle Kunstausübung.

Nach dem Krieg war dann die expressionistische Attitüde bereits eine Stilkonvention und ein Symptom der erodierten Gesellschaftsordnung. Industrie und Unterhaltungskunst bedienten sich dieser Anmutung, so wie die heutigen Reklame-Spots Fluxus und Punk versprühen. Der Dresdner Holzschnittkünstler Wilhelm Rudolph sprach damals von der „Routine der Wildheit“. Ernst Ludwig Kirchner hat mit seiner apologetischen „Chronik KG Brücke“ und den fingierten Selbstbesprechungen unter der Maske des (ausländischen) Kunsthistorikers Louis de Marsalle der späteren Mystifikation vorgearbeitet.

Nach der nobilitierenden Verfolgung als „Entartete Kunst“ scheint der Knoten für alle Zeiten fest geschürzt, und die selbstverursachte Krisis des künstlerischen Ausdrucks ist nicht mehr diskutierbar. Zwei Ausstellungen im Museum für bildende Künste in Leipzig machen sie anschaulich und zeigen die zeitgenössischen Auswege. Einer verläuft über die Literatur. Bis zur Zerstörung im Bombenkrieg war Leipzig das deutsche Zentrum des Druckgewerbes und der Buchgestaltung. Entsprechend hat sich hierin auch der expressionistische Zeitgeist ausgedrückt. Der Kurt-Wolf-Verlag (1913–1940) war gewiß der wichtigste Verlag für den literarischen Expressionismus. In ihm erschien auch zwischen 1919 und 1921 Genius, eine „Zeitschrift für alte und werdende Kunst“, die einen wesentlichen Beitrag zur Reifung des expressionistischen Mostes leistete. Aber auch Kirchners zwiespältige Selbstbesprechungen finden sich in ihren Seiten.

Die Ausstellung mit ihren genialischen Skizzen Kirchners, die als „Meisterblätter“ deklariert werden, wurde vom Brücke-Museum Berlin übernommen. Es sind Blätter, die ihre Entstehung künden. Spontaneität und Wildheit sind ihre einzige Botschaft. Der Titel der Auswahl lautet „Zeichnen bis zur Raserei“. Die pathologische Begrifflichkeit erstreckt sich auch auf die Parallel-Ausstellung „Vom Fieber besessen – Rüdiger Berlit und der Expressionismus in Leipzig“. Der drei Jahre jüngere Berlit stirbt wie Kirchner 1939. Anders als dieser, der sich in formale Sackgassen manövrierte, wendet sich Berlit bereits in den zwanziger Jahren wieder subtileren Farben und Formen zu, in der Nachfolge Cézannes, wie Aquarelle aus dieser Zeit nahelegen. Auch in seinen Holzschnitten ist die expressive Aufgeregtheit einer feierlichen Formverknappung gewichen, die wesentlich willkürfreier wirkt als des Altersgenossen formale Experimente.

Der Kritiker Egbert Delpy beschreibt Berlits Malerei 1916 auf dem Höhepunkt der Zeitströmung: „Er erreicht mit seinen auf schärfste Kontrasttöne gestimmten Landschaften gewisse monumentale Wirkungen, die anzuerkennen sind, wenn auch die Einförmigkeit dieses Naturschemas und die grelle Buntheit seiner Koloristik auf die Dauer schwer erträglich sind.“ Im Mai 1918 finden die Expressionisten Einlaß in den großen Oberlichtsaal, und Delpy stellt in den Leipziger Neuesten Nachrichten fest, „daß auch diese gefährlichste und aufregendste aller Rasereien das Gesetz ihres Abebbens bereits in sich trägt. (…) Die wild gerissenen Zusammenhänge mit der Wirklichkeit erweisen sich als unzerstörbar.“

Die Ausstellungen „Zeichnen bis zur Raserei. Ernst Ludwig Kirchner – Meisterblätter aus dem Brücke-Museum Berlin“ und „Vom Fieber besessen – Rüdiger Berlit und der Expressionismus in Leipzig“ sind noch bis zum bis 5. April im Museum für Bildende Künste Leipzig, Katharinenstraße 10, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 20 Uhr, zu sehen. Telefon: 03 41 / 2 16 99-0, Internet: www.mdbk.de

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