© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Spinne im Literaturnetz
Deutsche Misere: Heinz Ludwig Arnold wird siebzig
Marcus Pohl

Am 29. März feiert Heinz Ludwig Arnold seinen 70. Geburtstag. Das allein unterscheidet ihn noch nicht von anderen, die am selben Tag das Licht dieser Welt in Gestalt einer 30-Watt-Birne erblickten – damals im Reich, zehn Tage bevor deutsche Marine und Gebirgsjäger den alliierten Angriffskriegern den Weg nach Narvik abschnitten.

Wer also ist dieser Arnold, von dessen Jubeltag man heuer besondere Notiz zu nehmen hätte? Zieht man „Kürschners Literaturkalender“ zu Rate, hat man es hier fraglos mit einer geheimen Macht zu tun. So gegen zweihundert Titel wirft die Bibliographie inzwischen unter seinem Namen aus – allerdings immer mit der Klammer „Herausgeber“. Arnold ließ also schreiben. So ist er – als würdiger Nachfolger des im ewigen Romanischen Café alle übertönenden Hermann Kesten – der unumstrittene Vorwort-„Führer“ der deutschen Literatur nach 1945 geworden.

Diese dienende Rolle schien dem in Essen gebürtigen Germanisten, der sich 1961 als „secretarius“ bei Ernst Jünger einfand, auf den Leib geschrieben zu sein. In der Wilflinger Zeit, die mit der symptomatischen Herausgeberschaft einer Festschrift zu Jüngers 70. Geburtstag endete, rief er 1962 ein Periodikum ins Leben, das zur bundesdeutschen Institution werden sollte: Text & Kritik. Mit dem Schwerpunkt deutsche Gegenwartsliteratur und „Gruppe 47“ sind die schmucklosen Hefte im Schwarzweiß-Design, die sich im Verlauf von fast fünfzig Jahren von GrassBöllEnzensberger über Büchner bis zu Grimmelshausen zurückgetastet haben, aus keiner Seminarbibliothek mehr wegzudenken. Dem nicht promovierten Editor und Strippenzieher Arnold bescherte dies 1972 einen Lehrauftrag für Literaturkritik in Göttingen, wo er mittlerweile als Honorarprofessor figuriert.

Intellektuelle Tristesse und Politikferne

Bibliographisch gesehen ist Arnold, seit 2004 federführend bei der dritten Auflage von „Kindlers Literaturlexikon“, die legendäre Spinne im Netz der Bonner literarischen Republik, eine Schlüsselstellung, die er auch nach 1989 verteidigen konnte – nicht zum Vorteil dessen, was man als Geist der Zeit bezeichnet. Zum Beweis lese man seinen kein dumpfes altlinkes Ressentiment aussparenden Aufsatz „Vom Verlust der Scham und dem allmählichen Verschwinden der Demokratie“ im gleichnamigen, selbstredend von ihm edierten Sammelband, der 1988 – wenige Monate vor dem Mauerfall – erschien. Wer über Rang und Namen in der altbundesrepublikanischen Gutmenschenliga verfügte, kam hier unter Arnolds Ägide zu Wort: Klaus Bölling, Freimut Duve, Erhard Eppler, Peter Rühmkorf, Klaus Staeck e tutti quanti, den Blechtrommler nicht zu vergessen. Das übliche Gewäsch zur „politischer Unkultur“ wird hier  festgemacht am „Fall Barschel“, der für Arnold überhaupt den Anstoß gab, diese Haikus zur „Moral“ der Bonner politischen Klasse abzufordern und zusammenzuleimen.

Auf dem papiernen Matterhorn, das der Editor Arnold in Jahrzehnten aufgehäuft hat, gibt es kein Erzeugnis, das wie unter dem Brennglas die intellektuelle Tristesse und deprimierende Politikferne dieser ausgelaugten Nachkriegsgeneration dokumentiert. Es legt mit Arnolds programmatischem, mit Hilde-Hamm-Brücher-Zitaten garnierten Gegreine über die mangelhafte „Bewältigung“ der NS-Verbrechen oder das angeblich unterentwickelte „demokratische Bewußtsein“ der Deutschen aber zugleich die schier unfaßbar simple Weltsicht dieses Herausgebertitanen offen. Daß derart geistige Genügsamkeit noch heute für seine unerschütterliche Netzwerkstellung im Literaturbetrieb ausreicht, sagt auch etwas aus über die ewige „deutsche Misere“.

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