© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/10 26. März 2010

Dolchstoßverschwörungen gibt es auch für die DDR
Eine Tagung der „Deutschen Gesellschaft“ über Mythen und Legenden auf dem Weg zur deutschen Einheit
Christian Dorn

Seit Nietzsche gilt die Frage, ob die jeweilige Ausweitung der Historie mehr zum Nutzen oder zum Nachteil des Lebens gerät. Mit Blick auf das gegenwärtige Gedenken an zwanzig Jahre deutsche Einheit darf zuweilen noch ersteres gefolgert werden. Beispielhaft dafür ist die jüngste Tagung des im Januar 1990 gegründeten Vereins Deutsche Gesellschaft. Diese stand unter dem Titel „Mythen und Legenden auf dem Weg zur Deutschen Einheit“.

Dabei zeigte sich, daß die Vermittlung von Geschichte am ehesten durch Persönliches gewährleistet werden kann. Stellvertretend hierfür steht die amerikanische Historikerin Hope M. Harrison, die in der Nacht des 9. November 1989 gerade von New York nach Berlin unterwegs war. Als sich der Flug dem Ende näherte, meldete sich der Kapitän: „Meine Damen und Herren, ich habe eine Nachricht für Sie: Die Mauer ist gefallen, wir fliegen jetzt direkt in die Geschichte.“ Gleiches gilt für Harrisons Darstellung, wie das amerikanische Volk den Mauerfall erlebt habe: Der Gedanke, daß die Mehrheit der Amerikaner bei dieser Nachricht Tränen in den Augen hatten, läßt einen als Deutschen nicht unberührt. Was also, wäre zu fragen, ist aus der deutschen Einheit in zwanzig Jahren geworden? Und: Welche Mythen verstellen dabei den Blick auf die Wirklichkeit?

Zu den zählebigsten gehört wohl die Legende vom verpaßten „Dritten Weg“. Wurde letzterer gar durch einen „Dolchstoß“ verraten? Diese erfrischend provokante Frage des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk war dann auch nur mehr rhetorisch, um mit den retrospektiven Illusionen abzurechnen. Freilich schickte Kowalczuk ahnungsvoll voraus, Mythen ließen sich bekanntlich nur zerstören, „indem man sie durch neue Mythen ersetzt“. Dennoch versuchte er, dieser Verführung zu entgehen, indem er an die Propaganda gegen die Wiedervereinigung erinnerte, die nicht auf einen Günter Grass beschränkt sei. Prominentes Beispiel für die Enttäuschung nach dem überraschenden Wahlsieg der Allianz für Deutschland – der, wie der Historiker Michael Weigl meinte, ausnahmslos alle westdeutschen Parteien verunsichert habe – war der verdiente SPD-Genosse Egon Bahr, der sich sonst gern als Vorkämpfer der nationalen Einheit sieht.

Von 500.000 Leipzigern demonstrierten nur 70.000

Er hatte der CDU/CSU damals vorgeworfen, „politische Umweltverschmutzung“ in die DDR exportiert zu haben. Der dort geführte Wahlkampf habe teils „faschistoide Züge“ getragen. In einem Prawda-Interview sprach Bahr von den „schmutzigsten Wahlen, die ich je in meinem Leben gesehen habe“. Obgleich internationale Wahlbeobachter die Situation als tolerant, gewaltlos und fair beschrieben, zeichnete Bahr ein völlig anderes Bild: „Das war reinster psychischer Terror nach Goebbels-Manier. Ich möchte wiederholen, daß dieser politische Schmutz aus der BRD exportiert wurde.“

Wenngleich gegen Kowalczuk keine Widerrede sinnvoll schien – der in der letzten Reihe sitzende Wolfgang Thierse wirkte wie versteinert –, meldete der ehemalige SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Hans-Jochen Vogel doch Widerspruch an, indem er zunächst auf die notwendige Kenntnis historischer Daten und Fakten pochte. Denn diese „erschweren nicht selten die Arbeit des Historikers“. So bemängelte er, daß immer wieder die SPD-Fraktion des damaligen Bundestages angezählt werde, von der 25 Abgeordnete gegen die Währungsunion votiert hatten. Zur Wahrheit gehöre auch, so Vogel, daß 13 Unionsabgeordnete gegen den Einigungsvertrag gestimmt haben – sechs wegen der Ost-Grenze, sieben wegen der Fristenregelung zum Schwangerschaftsabbruch. Doch nebenbei erliegt auch Vogel wieder einem Mythos – so, als er das Mantra von den zwölf Millionen Heimatvertriebenen wiederholt, die in der Bundesrepublik Heimat gefunden hätten. Tatsächlich verblieb ein nicht unbeträchtlicher Teil der Heimatvertriebenen in der DDR.

Ein anderer Mythos ist jener vom „Volk auf der Straße“. Der Bürgerrechtler und heutige EU-Parlamentarier Werner Schulz verwies mit Blick auf Leipzig darauf, daß von 500.000 Menschen nur 70.000 auf der Straße waren – „und davon vermutlich die Hälfte von außerhalb“.

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