© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

„Kohl wurde nicht verstanden“
Helmut Kohl war das Verhängnis der Konservativen. Nein, widerspricht Weggefährte Carl-Dieter Spranger
Moritz Schwarz

Herr Spranger, 1991 hat Helmut Kohl Sie in sein Kabinett berufen, warum?

Spranger: Helmut Kohl hatte immer etwas für junge, hoffnungsvolle Unionspolitiker übrig. Ich habe ihn wohl durch meine Arbeit im Bundestag seit 1972 und als Staatssekretär im Bundesinnenministerium seit 1982 überzeugt. Er berief mich auf Vorschlag des damaligen Finanzministers Theo Waigel.

Sie haben ihn dann bis zum Ende seiner Amtszeit 1998 begleitet. Welches Verhältnis hatten Sie persönlich zu ihm?

Spranger: Im Laufe der Jahre wuchs aus der natürlichen Hochachtung und dem Respekt ihm gegenüber ein großes menschliches Vertrauen, ja freundschaftliche Zuneigung, vor allem in den letzten Jahren seiner Regierung. Bis heute darf ich sein Wohlwollen, seine Unterstützung, ja Freundschaft dankbar erfahren. Wir haben uns einfach immer aufeinander verlassen können. Und privat habe ich mit ihm viele stimmungsvolle, fröhliche Stunden erleben dürfen.

Kohl kennt angeblich keine Freundschaften, sondern nur Loyalitätsverhältnisse.

Spranger: Über Helmut Kohl wurden und werden viele törichte, primitive und feindselige Klischees verbreitet. Natürlich gehört zur Freundschaft auch Loyalität. Daß er viele Menschen begeistern und für sich einnehmen konnte, zeigen nicht nur seine Erfolge als Wahlkämpfer, als dienstältester Bundeskanzler und als jahrzehntelanger unbestrittener Vorsitzender der Union. Diese menschliche Leistung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Heute gilt Kohl als „Kanzler der Einheit“. Tatsächlich aber hat er bis zum 9. November 1989 nichts getan, um diese zu erreichen.

Spranger: Das Märchen von dem Selbstläufer deutsche Einheit kann nur noch von völligen Ignoranten oder böswilligen, die Wahrheit auf den Kopf stellenden politischen Gegnern Helmut Kohls verbreitet werden. Es ist historisch belegt, mit welcher grandiosen Strategie, mit welchem Geschick, Einfühlungsvermögen und langjähriger Zielstrebigkeit in Außen- und Innenpolitik Helmut Kohl auf die Einheit hingearbeitet hat.

Zum Beispiel?

Spranger: Das Problem ist, daß viele seine Entscheidungen oft nicht verstanden haben, wie etwa die Vermittlung des Milliardenkredits an die DDR 1983 zusammen mit Franz Josef Strauß und die sich daraus ergebenden bedeutsamen positiven Konsequenzen. Das zum Beispiel erwies sich ebenso wie der gegen heftigste Widerstände durchgesetzte Nato-Doppelbeschluß als mittel- und langfristige fundamentale Weichenstellung für den Zusammenbruch des Ostblocks und für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands. Helmut Kohl gilt also zu Recht als „Vater bzw. Kanzler der Einheit“.

Noch 1987 hatte er Erich Honecker als „Staatsgast“ empfangen. Und damit ausgedrückt, daß er die Teilung als endgültig anerkannte.

Spranger: Die Einladung an Honecker war von der Regierung Schmidt ausgesprochen worden, wurde lange auf Eis gelegt und erst nach wesentlichen Verbesserungen in den innerdeutschen Beziehungen mit Hilfe des Milliardenkredits – etwa Abbau der Todesautomaten an der Grenze, der Vervielfachung der Ausreisemöglichkeiten, der Freilassung von Zehntausenden politischer Häftlinge – dann umgesetzt. Kohl nutzte den Besuch zur Klarstellung, Ziel seiner Politik sei und bleibe die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit. Es war eine Sensation, als seine damalige Tischrede in Bonn mit der Betonung der Wiedervereinigung als Aufgabe und Ziel deutscher Politik von Honecker nicht nur angehört werden mußte, sondern live in die DDR übertragen wurde. Im Gegensatz zu weiten Teilen von SPD und Grünen hat Kohl auch niemals die Forderungen der DDR anerkannt, die zentrale Erfassungsstelle von DDR-Unrecht in Salzgitter abzuschaffen, die Elbmitte als Grenze zu akzeptieren und die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Wäre das geschehen, hätten 1989 die Flüchtlinge nicht als Deutsche in die Bundesrepublik Deutschland kommen können, sondern hätten Asyl beantragen müssen. Eine absurde Vorstellung. Und absurd zu vermuten, Kohl habe die deutsche Teilung anerkannt!

Der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann, später Präsident des Europäischen Rechnungshofes, wirft Kohl vor, die Einheit aufgegeben zu haben. Laut Friedmann hat Kohl seine damalige Forderung nach einer aktiven Wiedervereinigungspolitik der CDU gar in typischer linker Manier als „friedensgefährdend“ verunglimpft und offen davon gesprochen, ihm ginge es stattdessen nur darum, die Mauer „durchlässiger“ zu machen.

Spranger: Ich weiß nicht, was Friedmann damals gesagt hat. Deutschlandpolitische Vorwürfe gegenüber Kohl sind durch den Verlauf der Geschichte aber widerlegt.

Sie Herr Spranger galten stets als Konservativer in der Partei. Hat es Sie nie gestört, daß Helmut Kohl sein Versprechen einer geistig-moralischen Wende nicht eingehalten hat?

Spranger: Seine Politik ist auf vielfache Weise auf einer geistig-moralischen Wende begründet gewesen. Seine Überzeugungen und Wertmaßstäbe ruhten auf grundsätzlich anderen Fundamenten als das Menschenbild und die Ideologien von SPD und Grünen und ihre daraus abgeleitete Politik. So belegt der Vollzug des Nato-Doppelbeschlusses, daß sich Kohl und die ihn tragenden Parteien gegen den massiven Widerstand der Radikalen bei SPD und Grünen zusammen mit vielen Hunderttausenden einer stasi-finanzierten, zum Teil gewalttätigen sogenannten „Friedensbewegung“ durchsetzen mußten.

Was hat das mit der 1982 versprochenen geistig-moralischen Wende zu tun?

Spranger: Die Durchsetzung des Nato-Doppelbeschlusses belegt eine fundamentale Abkehr von Anpassung, Feigheit gegenüber dem kommunistischen Ostblock oder gar dessen Unterstützung. Oder nehmen Sie die große Steuerreform. Diese hatte als geistig-moralisches Fundament, daß sich Leistung wieder lohnen, Eigenverantwortung gefördert und staatlicher Einfluß reduziert werden mußte. Die Innenpolitik unter Innenminister Fritz Zimmermann, einem der durchsetzungsfähigsten Innen- und Umweltminister der Bundesrepublik Deutschland, mit dem Ziel der Stärkung von Sicherheit, Ordnung und Schutz vor Verbrechen, mußte als Abkehr von langjähriger FDP/SPD-Praxis gegen massivste Widerstände von SPD und Grünen, den entsprechenden Medien und gegen bestimmte Leute in der FDP, wie den Herren Hirsch und Baum, mühselig und Schritt für Schritt umgesetzt werden. Ich habe das jahrelang miterlebt. Die Reduzierung der Staatsverschuldung, die wirtschaftlich und finanziell wachsenden Spielräume der Bundesrepublik unter den Finanzministern Stoltenberg und Waigel schufen erst die ökonomische Voraussetzung für die vielen Milliarden zum Abbau der Erblasten des Sozialismus bei der Wiedervereinigung.

Moment! Sie flüchten sich in eine allgemeine Aufzählung damaliger Regierungserfolge.

Spranger: Nein, alle Ressorts, auch die von mir verantwortete Entwicklungspolitik, auch die Bildungs- oder die Sozialpolitik, änderten Schritt für Schritt frühere Zielsetzungen. Die Politik Helmut Kohls belegt also auf vielfache Weise in ihren Fundamenten eine geistig-moralische Wende.

Es ist inzwischen bezeugt, daß Kohl 1989/90 alles getan hat, um das neue Nationalgefühl der Deutschen zu stutzen. So wollte er etwa direkt nach seinem großen Auftritt im Dezember 1989 in Dresden einen Chor schnell ein Kirchenlied anstimmen lassen, damit die Leute nicht etwa das Deutschlandlied singen.

Spranger: 1989/90 mußte man die nationale Begeisterung der Deutschen nicht zusätzlich anheizen. Im Gegenteil, man mußte den Widerstand und die Befürchtung nahezu aller früheren Weltkriegsgegner dämpfen, ein wiedervereinigtes Deutschland bedeute eine Gefahr. Man mußte sie von der Berechtigung des Anspruchs der Deutschen auf Einheit mühselig überzeugen. Es war eine historische Leistung der drei Parteivorsitzenden Kohl, Genscher und Waigel, daß dies gelang. Man lese mal nach, wer Kohl und seine Regierung damals tatsächlich bei der Wiedervereinigung unterstützt hat – außer Bush senior, Gorbatschow und Felipe González waren es nicht allzu viele. Nein, auf dem Weg zur deutschen Einheit hat Kohl nahezu alles richtig gemacht. Das bestreitet heute auch kein ernstzunehmender Historiker.

Vom Euro hat Kohl immer behauptet, er sei im deutschen Interesse. Doch gegenüber US-Außenminister James Baker räumte er das Gegenteil ein. Finden Sie dieses eingestandene Lügenverhalten nicht erschütternd?

Spranger: Ihre Formulierung am Ende verbietet mir eine Antwort.

Der renommierte Politologe Gerd Langguth attestiert Kohl, er habe den Euro klar gegen den Willen des deutschen Volkes eingeführt.

Spranger: Viele richtige politische Entscheidungen wurden gegen die Mehrheit demoskopischer Meinungsbilder durchgesetzt, etwa die Einführung der Bundeswehr. Politik, die Demoskopie zu ihrem Programm erhebt, taugt nichts.

Inzwischen fällt uns der Euro auf die Füße – Stichwort: Griechenland.

Spranger: Tatsächlich hat der Euro sich bis heute in der Krise hervorragend gehalten, das hat vor kurzem eindrucksvoll Theo Waigel in der FAZ dargestellt. Das internationale Spekulantentum, die anglo-amerikanischen Bank- und Finanzmoloche hätten mit der D-Mark Pingpong gespielt – mit unabsehbaren Folgen für die deutsche Wirtschaft, für Arbeitsplätze und soziale Sicherheit. Sicher, Griechenland hätte man mit seinen gefälschten Statistiken und getürkten Einnahmen und Ausgaben nicht in die Euro-Zone aufnehmen dürfen. Das allerdings war die Entscheidung von Bundeskanzler Schröder und seines Finanzministers Hans Eichel.

Heute zeichnen sich die katastrophalen Konsequenzen der Massenzuwanderung ab. Kohl hatte 16 Jahre Zeit, um dies zu verhindern. Doch passiert ist fast nichts. Die heutige Multikulturalisierung Deutschlands haben wir damit vor allem auch Kohl zu verdanken.

Spranger: Haben Sie schon mal etwas davon gehört, daß zur Verhinderung des massenweisen Mißbrauchs des Asylrechts 1982 eine Grundgesetzänderung mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag notwendig war? Ich habe es schmerzvoll erlebt, wie Bundesminister Zimmermann und die CDU/CSU jahrelang vergeblich versuchten, SPD, Grüne, Teile der FDP und bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen wie die Kirchen mit ihrem „Kirchenasyl“ davon zu überzeugen, den Mißbrauch durch Grundgesetzänderung einzudämmen. Jahrelang gab es keine Zweidrittelmehrheit. Nein, Helmut Kohl, der CDU und CSU kann man wirklich nicht die geringsten Vorwürfe für die schlimme Entwicklung in diesem Bereich machen.

Statt Konservative wie Bernhard Friedmann oder Jürgen Todenhöfer hat Kohl Leute wie Heiner Geißler oder Rita Süssmuth protegiert.

Spranger: Ich bin doch mit das beste Beispiel dafür, daß konservative Politiker in der Kohl-Union ihre Chancen hatten, geschweige denn in der CSU von Franz Josef Strauß.

Gemeint ist, Kohl hat nie ein konservatives Netzwerk gebildet. Ergo gab es am Ende seiner Amtszeit keine konservativen Strukturen und die Partei fiel folglich in die Hände der Erben Geißlers und Süssmuths, in deren „Tradition“ wohl Angela Merkel gesehen werden muß.

Spranger: Ich kann nur sagen, die Konservativen müssen sich an die eigene Nase fassen: Man muß sich nämlich auch durchsetzen wollen und können, für eigene Überzeugungen kämpfen und gegen mißliebige politische Entwicklungen in der Partei antreten. Ich habe nicht gehört, daß Helmut Kohl sehr viel öffentliche Unterstützung bekommen hat, als 1989 auf dem Parteitag in Bremen unter Führung Heiner Geißlers und Beteiligung von Rita Süssmuth, Norbert Blüm und Lothar Späth, der Versuch zu seinem Sturz unternommen wurde. Das Unternehmen ist dank seines Mutes und seiner Standfestigkeit und dank seiner Freunde kläglich gescheitert. Und für die Entwicklung der CDU nach seinem Ausscheiden als Vorsitzender kann man Helmut Kohl wirklich nicht in Haftung nehmen. Den heutigen Zustand der CDU und ihre programmatischen und personellen Strukturen hat schon die heutige Führung zu verantworten.

Zugegeben, nicht alles war schlecht: Seine „berüchtigte“ Panzerfahrt in Uniform etwa war ein damals mutiges Bekenntnis zur Bundeswehr, sein Auftritt in Bitburg ein erstaunliches Trotzen gegen den Zeitgeist und sein charaktervolles Schweigen in der Spendenaffäre steht wohl über dem Rechtsbruch in der Sache. Was ist für Sie die positivste Erinnerung an Kohl?

Spranger: Es ist ja wirklich schön, daß Sie hier doch noch einige kleine positive Beispiele Kohlscher Politik bringen. Die Dimension seines Wirkens ist natürlich viel gewaltiger: Er ist, wie gesagt, zu Recht der „Kanzler der Einheit“ und Ehrenbürger Europas. Er ist mit Bismarck und Adenauer der größte und erfolgreichste deutsche Staatsmann des 19. und 20. Jahrhunderts. Er hat deutsche Interessen gewahrt und das Ansehen Deutschlands gemehrt. Sicherheit, Wohlstand und Stabilität waren während seiner Kanzlerschaft unübertroffen. Und der Abbau der DDR-Erblasten, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für die Menschen in den neuen Bundesländern waren allein schon eine einzigartige historische Leistung! Daß dies nicht allgemein anerkannt wird, insbesondere nicht von vielen Linken, die mit dem Zusammenbruch der DDR ihre Sozialismusträume einbüßten, ändert nichts an den Tatsachen. Ich jedenfalls bin dankbar und stolz, daß ich so lange mit ihm habe zusammenarbeiten dürfen. Sein achtzigster Geburtstag am 3. April ist auch für mich ein Festtag. Helmut Kohl gelten meine allerbesten Wünsche.

 

Carl-Dieter Spranger war von deren Beginn bis Ende Mitglied der Regierung Helmut Kohl. Bei Amtsantritt 1982 als Parlamentarischer Staatssekretär ins Innenministerium berufen, holte ihn Helmut Kohl 1991 ins Kabinett. Bis zum Ende des letzten Kabinetts 1998 diente Spranger als Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Außerdem war der ehemalige Staatsanwalt und Landgerichtsrat bis 2001 Mitglied des CSU-Parteivorstandes und bis 2002 Abgeordneter des Deutschen Bundestages, zeitweilig als Vorsitzender der Arbeitsgruppe Inneres. Geboren wurde Spranger 1939 in Leipzig

 

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