© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Die Entdeckerin der Schweigespirale
Nachruf: Elisabeth Noelle hat zeitlebens versucht, die „öffentliche Meinung“ in Deutschland zu entschlüsseln
Karlheinz Weissmann

Es ist schwer, über Elisabeth Noelle zu schreiben, ohne auf ihr Äußeres zu kommen. Daß es auch um weibliche Attraktivität in einer eher ungewöhnlichen Variante ging, sei nur am Rande vermerkt, wichtiger war ihre Präsenz, die sich in Körperhaltung und innerer Spannung ausdrückte, im Vorschnellen während des Sprechens, wenn sie etwas entgegnete oder jemanden zu überzeugen suchte, die Verachtung in ihrem Mienenspiel, die Geste, mit der sie ihr Haar zurückstrich, um klarzustellen, daß die Debatte beendet sei.

Die Frisur blieb ausweislich der Fotografien seit ihrer Jugend unverändert, „burschikos“ nannte man sie, als sie von der Filmschauspielerin Marianne Hoppe aufgebracht wurde, kein Herrenschnitt einer garçonne, aber doch praktischer und unverspielter, als was man sonst bei Damenfrisuren erwarten durfte, Ausdruck des ersten deutschen „Fräuleinwunders“, das nicht in der Nach-, sondern in der Vorkriegszeit stattfand.

Elisabeth Noelle war eine der wichtigsten Repräsentantinnen jener Generation, die in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren erwachsen wurde. Am 19. Dezember 1916 geboren, stammte sie aus gutbürgerlichen Verhältnissen, zeigte allerdings früh außergewöhnliche Intelligenz und außergewöhnlichen Eigenwillen. Sie besuchte in ihrer Heimatstadt Berlin die Schule, wurde aber schließlich wegen ihrer Eskapaden in die niedersächsische Provinz geschickt und machte in Göttingen ihr Abitur. Noch Jahrzehnte später konnte sie begeistert von den Tricks erzählen, mit denen sie dem langweiligen Unterricht zu entgehen wußte, um sich heimlich in die Vorlesungen der Universität zu schleichen.

Ihr Studium der Geschichte, Philosophie, Zeitungswissenschaft und Amerikanistik nahm sie allerdings in Berlin auf, hörte einige Semester in Königsberg und ging dann als Stipendiatin in die Vereinigten Staaten. An der Universität Missouri lernte sie auch die neuen Methoden der Demoskopie kennen. 1940 wurde sie mit einer Arbeit zu diesem Thema bei Emil Dovifat, dem Nestor der deutschen Zeitungswissenschaft, promoviert. Da hatte sie längst als Journalistin zu arbeiten begonnen, absolvierte ein Volontariat bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung und trat dann eine Stelle beim Reich an.

Die Verbindung zu Goebbels’ Prestigeblatt war kein Zufall. Im Propagandaministerium hatte man die außergewöhnlich begabte junge Frau längst bemerkt, und man interessierte sich auch für ihr eigentliches Arbeitsgebiet, die Demoskopie. Denn entgegen der Fama war man in Teilen der NS-Führung durchaus offen für die Übernahme moderner sozialwissenschaftlicher Konzepte angelsächsischer Provenienz, wenn diese geeignet schienen, Herrschaftswissen zu erheben und Herrschaftsmittel zu verbessern. Und in einer modernen Massengesellschaft gehörten repräsentative Umfrageergebnisse unbedingt dazu.

Man darf Elisabeth Noelles Kooperationsbereitschaft allerdings nicht ideologisch deuten. Dazu waren Sachverstand und Nüchternheit zu ausgeprägt. Aber sie sah Karrierechancen und die Möglichkeit, mächtige Alliierte für den Versuch zu gewinnen, eine in Deutschland noch unbekannte Disziplin zu etablieren. Was genau an politischen und persönlichen Gründen eine engere Zusammenarbeit zuletzt verhindert hat, ist bis heute nicht überzeugend geklärt und wird wohl erst mit Hilfe einer wissenschaftlichen Biographie zu erhellen sein. Fest steht jedenfalls, daß sie das Reich verließ und zur halboppositionellen Frankfurter Zeitung wechselte und eine Stelle im Propagandaministerium nicht antrat.

Wahrscheinlich hatte Elisabeth Noel­le während des Krieges schon keine Illusionen mehr über das prekäre Verhältnis zwischen Demoskopie und Politik. Und daran änderte sich auch nichts nach dem Zusammenbruch. Die spannungsreiche Beziehung bildete den Hintergrund für ihren weiteren Lebensweg und ihre außergewöhnliche Karriere. 1946 heiratete sie den Journalisten Peter Neumann und führte zukünftig den Namen Noelle-Neumann. Zusammen bauten die beiden das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) auf und machten es zur führenden Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik. Die vom IfD auf der Basis repräsentativer Umfragen herausgegebenen Jahrbücher bilden eine unverzichtbare Quelle für die Analyse des großen Mentalitätswandels, der sich in der Nachkriegszeit vollzog. Seine Aufträge erhielt das Institut zuerst von Stellen der Besatzungsmächte, dann aus Kreisen der Wirtschaft und von staatlichen Institutionen der Bundesrepublik.

Peter Neumanns Engagement in der CDU führte dabei rasch zu dem Verdacht, hier werde parteilich gearbeitet und nur solche Ergebnisse veröffentlicht, die den Auftraggebern paßten. Allerdings ist festzuhalten, daß nicht nur die Wahlprognosen des IfD außerordentlich sicher waren, sondern auch, daß die Erhebungen zu politischen Einstellungen oder zum „Wertewandel“ den Tatsachen besser entsprachen als die Behauptungen seiner Gegner. Da die Kritiker im allgemeinen die „veröffentlichte Meinung“ repräsentierten, wurden sie nur ungern daran erinnert, wie die „öffentliche Meinung“ die Dinge tatsächlich einschätzte.

Elisabeth Noelle hat diese Diskrepanz und die Möglichkeiten der Manipulation durch Massenmedien und Multiplikatoren in ihrem Bestseller „Die Schweigespirale“ (zuerst 1980) ebenso einleuchtend wie kenntnisreich analysiert. Das Buch galt der Linken als eine der konservativen Kampfschriften und als wissenschaftlich belanglos. Aber wer Anfang der achtziger Jahre eine deutsche Universität besuchte und Noelles Experiment mit dem CDU-Anstecker, getragen unter irgendwelchen durchaus unpolitischen Kommilitonen, nachvollzogen hat, wußte, daß sie recht und ihre Gegner unrecht hatten.

Trotz ihrer deutlichen und häufig überraschend politischen Kommentare, die etwa in den Monatsberichten des IfD für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zum Ausdruck kamen, darf man nicht verkennen, wie sehr Elisabeth Noelle die Nähe der Macht suchte und sich unbedingt in dieser Nähe zu halten suchte. Über den Einfluß der „Pythia vom Bodensee“ auf Helmut Kohl sind viele Mutmaßungen im Umlauf gewesen.

Beide hatten schon seit Anfang der sechziger Jahre zusammengearbeitet und fest steht jedenfalls, daß sie das Ihre dazu getan hat, die erste Wende (von 1982) vorzubereiten und ihre Erfolge herauszustellen, der zweiten Wende (von 1989) eine angemessene – von den Meinungsmachern keineswegs gewünschte – Wertung zu verschaffen und gleichzeitig alles Aufbegehren von rechts niederzuhalten.

Verblüffend war für viele ihrer Anhänger, daß sie zugab, die Prognosen für die Republikaner vor deren erstem Einzug in den baden-württembergischen Landtag 1992 kleingerechnet zu haben, um zögernde Wähler (die ein Scheitern an der Fünf-Prozent-Klausel und damit ein „Verschenken“ der eigenen Stimme fürchteten) abzuschrecken. Ihre Rechtfertigung für diese wissenschaftliche wie moralische Unsauberkeit hätte wohl gelautet, daß die Konservativen nicht ungeduldig sein dürften; die Zeit arbeite für sie, äußerte sie einmal in einem Interview.

Wahrscheinlich hat sie an dieser Auffassung festgehalten, denn ein amerikanisch wirkender Optimismus, eine can do-Haltung, die keine Vorbehalte dulden wollte, durchzog ihre ganz Art. Das erklärt auch etwas von der Unbekümmertheit, mit der sie, die Arrivierte, Hochschullehrerin und Direktorin des von ihr gegründeten Instituts für Publizistik der Universität Mainz, international Geehrte, 2006 den Gerhard-Löwenthal-Preis annahm. Elisabeth Noelle starb am 25. März im Alter von dreiundneunzig Jahren.

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