© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

In Europa aufgehen
Die Paradoxien des Helmut Kohl: Stationen des letzten Kanzlers der Bonner Republik
Thomas Bachmann

Am 13. Oktober 1982 trat Helmut Kohl vor das im alten Bonner Plenarsaal versammelte Parlament, um seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler zu verlesen. Zwölf Tage zuvor hatte er glückselig lächelnd auf jenem Sitz Platz genommen, der acht Jahre lang dem soeben durch ein konstruktives Mißtrauensvotum gestürzten Helmut Schmidt vorbehalten gewesen war.

Das Karriereziel, das er 1976 nur so knapp verfehlt hatte, war endlich auf allerlei Umwegen erreicht. Nun galt es, von der Vergangenheit abzusehen und den Blick nach vorne zu wenden. War die neue Verantwortung nicht zu gewichtig, als daß man sich bedingungslos an all die Positionen hätte gebunden fühlen dürfen, die aus taktischem Kalkül in der Opposition vertreten worden waren?

Was Helmut Kohl den Abgeordneten als Programm seines ersten Kabinetts vortrug, brachte folgerichtig vor allem eine von Sensibilität für die prekäre Lage des neuen Koalitionspartners FDP getragene Mäßigung zum Ausdruck und hätte daher durchaus geeignet sein können, sowohl die Befürchtungen seiner Gegner als auch die Erwartungen seiner Anhänger zu dämpfen.

Aufmerksames Zuhören war in der aufgeheizten Atmosphäre des durch bloße Parteienränke herbeigeführten Regierungswechsels und des erbitterten Streits um die Terminierung von Neuwahlen allerdings eine nicht gerade weitverbreitete Tugend. Das Bild, das die in ihrer überwiegenden Mehrheit der Union feindlich gesonnenen Medien von Kohl zeichneten, stellte ihn keineswegs als pragmatischen Nothelfer und Erneuerer dar.

Hier, so die so populäre wie dumpfe Unterstellung, trat jemand an, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die Reformen der sozial-liberalen Ära ungeschehen zu machen. Hatte sich Helmut Kohl schließlich nicht selbst als „Enkel“ des den „Mief“ der fünfziger Jahre verkörpernden Konrad Adenauer inszeniert, und war das vielgepriesene Schlagwort von der „geistig-moralischen Wende“, die es auf den Weg zu bringen gelte, nicht von ihm in die Welt gesetzt worden?

Seine Regierungserklärung war jedenfalls nicht von der seinerzeit die Konservativen in CDU und CSU noch umtreibenden Sehnsucht nach einer heilen Welt der bundesrepublikanischen Gründerjahre getragen, die durch die „68er“ und deren politischen Vollstrecker Willy Brandt aus den Fugen geraten sei. Die in ihr diagnostizierte „geistig-politische Krise“ machte sie so auch keineswegs an einem vermeintlich beklagenswerten Wertewandel fest, sondern an einer Verunsicherung der Bürger im Angesicht gravierender realer Probleme wie Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und Rüstungswettlauf. Eine andere Analyse hätten auch die Sozialdemokraten und selbst die damals zum Sprung in den Bundestag ansetzenden Grünen letztlich nicht bieten können. Kohl verband sie jedoch mit dem Appell, nicht länger Zuflucht in Utopien oder Nostalgie zu nehmen. Dies konnte auch als Warnung an jene in den eigenen Reihen verstanden werden, die die Konflikte zwischen Regierung und Opposition im zurückliegenden Jahrzehnt als vor allem weltanschauliche Auseinandersetzung begriffen hatten. Die neue Koalition, litaneihaft als eine solche der „Mitte“ proklamiert, sollte statt dessen einen durch „Wirklichkeitssinn“ geprägten politischen Stil begründen, der „Ideologien der Macher und Heilsbringer“ ignorieren würde.

Der Schlußstrich unter die heute im Rückblick grotesk und unappetitlich anmutenden Debatten und Überspanntheiten der siebziger Jahre war jedoch nicht einfach qua Richtlinienkompetenz des Kanzlers durchzusetzen. Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag nach der Wahl im März 1983 begannen vielmehr Meinungen, Themen und politische Stilmittel hoffähig zu werden, die zuvor als ideologisch randständig und daher indiskutabel galten.

Der Preis für die Integration der anpassungswilligen Mehrheit, der sich bislang in einer bunten Vielfalt skurriler Sekten tummelnden Linksextremisten in den Verfassungsbogen war die Anerkennung ihrer moralischen Autorität und der Berechtigung ihrer lediglich mit einem Übermaß an Radikalität vorgetragenen Anliegen. Diese ist ihr auch von der Union nicht versagt worden, als sie erkannte, daß es sich bei den Grünen nicht wie bei der NPD 15 Jahre zuvor um ein vorübergehendes Phänomen handeln würde. Der einseitig erklärte Rückzug aus grundsätzlichen weltanschaulichen Kontroversen vermittelte ihr die Geschmeidigkeit, sich als besserer, da pragmatischerer Mentor neuer Themen und Zielsetzungen auszugeben.

Das freiwillige Opfer für die Verschiebung des Koordinatensystems der Union zur Mitte hin war die Zurückdrängung liberal, christlich oder gar national konnotierter konservativer Stimmen. Dieses konnte ohne größere Bedenken erbracht werden, da es sich um eine zwar lautstarke und agile, aber eben doch minoritäre Strömung in CDU und CSU handelte, deren Integrationsfigur Franz Josef Strauß (CSU) durch sein Debakel bei der Bundestagswahl von 1980 entzaubert worden war. Zudem mußte davon ausgegangen werden, daß der gesellschaftliche Wandel irreversible Fakten geschaffen hatte.

Von einer schweigenden, im Kern konservativen Wertvorstellungen verhafteten und daher dem „linken Zeitgeist“ kritisch gegenüberstehenden Mehrheit war nicht länger auszugehen. Wollte die Union nicht durch ein Beharren auf ihrem überkommenen Profil ihren Charakter als Volkspartei gefährden, sondern koalitions- und damit mehrheitsfähig bleiben, hatte sie sich nach links zu bewegen.

Der Erfolg dieser strategischen Neuausrichtung kann zwar durch den Verweis auf Wahlergebnisse in Zweifel gezogen werden. Tatsächlich vermochte es die alte Union einst, aus eigener Kraft in die Nähe der absoluten Mehrheit der Stimmen vorzustoßen, während sie sich heute mit einem mageren Wählerzuspruch um 35 Prozent zufriedengeben muß. Andererseits ist die Frage legitim, ob sie mit einer dezidiert konservativen Programmatik überhaupt noch ein zweistelliges Ergebnis einfahren könnte.

Helmut Kohl war dazu prädestiniert, den Wandel der CDU anzustoßen. Bereits in der rheinland-pfälzischen Landespolitik hatte er sich das Image eines Modernisierers ohne Scheuklappen erworben, der auch zur Bändigung der eigenen Partei auf eine Zusammenarbeit mit den Liberalen setzte. Als Antipode Rainer Barzels wurde er insbesondere von unionskritischen Medien geschätzt und hofiert, bis er das Zepter auf der Bundesebene in die Hand nahm.

Es gehört zu den zahlreichen Paradoxien Helmut Kohls, daß ausgerechnet er selbst die von ihm angestoßene Neupositionierung seiner Partei nicht verkörperte. Hinsichtlich seines Habitus, seiner unbeirrbaren Verwurzelung im heimatlichen katholischen Milieu, das für diese Heimat längst nicht mehr typisch ist, wie auch seiner politischen Glaubenssätze blieb er das Relikt einer fernen Zeit, der alten Bundesrepublik, die als ein Geschöpf der Union im Normalfall auch von dieser zu regieren wäre. Wer sich heute seine Positionen zu eigen machte und auf die Suche nach Gleichgesinnten ginge, würde diese kaum in der CDU finden.

Entsprechend seines eigenen biographischen Hintergrundes lebte Helmut Kohl stets in der Gewißheit, daß es respektable demokratische Traditionsstränge gebe, die durch den Nationalsozialismus nicht zerstört worden seien. Dies erlaubte ihm einen unbefangenen Umgang mit der deutschen Geschichte, zu dem sich seine Nachfolger, obwohl ihnen die Gnade einer noch späteren Geburt zuteil wurde, nicht mehr imstande zeigten. So rang er Ronald Reagan aller Medienschelte zum Trotz ein gemeinsames Totengedenken auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg ab, obgleich dort auch Angehörige der Wafeen-SS bestattet waren.

Nicht nur hier stellte er sich auf dem Felde der Geschichtspolitik in die Kontinuität mit Konrad Adenauer, der US-Präsident Eisenhower eine Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten abverlangt hatte. Er teilte auch dessen Obsessionen hinsichtlich der Lehren, die es aus der Katastrophe von Diktatur und Weltkrieg zu ziehen gelte. Es reiche nicht aus, den Nationalsozialismus zu ächten und sein Wiederaufflackern rigoros zu unterbinden. Auch ein demokratisches, gar wiedervereinigtes Deutschland könne aufgrund seines Potentials als Bedrohung für die internationale Stabilität empfunden werden. Daher liege es in seinem ureigensten Interesse, in einem größeren, europäischen Zusammenhang aufzugehen.

Hierin und nicht in nüchternen wirtschaftlichen Effizienzerwägungen ist das eigentliche Motiv für die Vehemenz zu sehen, mit der Helmut Kohl das Projekt einer Gemeinschaftswährung betrieben hat.

Als er sein Amt als Bundeskanzler antrat, waren aber weder der Euro noch die deutsche Einheit Ziele, die als überhaupt nur in den Bereich des Vorstellbaren gerückt hätten erscheinen können. Das Augenmerk richtete sich auf die Bewältigung aktueller, als dramatisch empfundener Probleme: wirtschaftliche Stagnation, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, ungenügende Ausländerintegration sowie eine alarmierende Kostenentwicklung im Gesundheitswesen und in der Altersversorgung. Hier wollte sich Helmut Kohl, wie er es in seiner Erklärung von 1982 ausdrückte, durch „die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes“ bewähren. Dies ist ihm nicht gelungen.

Als Kohl 1998 nach 16 Jahren im Amt abgewählt wurde, hatten sich alle Probleme, zu deren Bewältigung er angetreten war, deutlich verschärft. Dies kann als ein weiteres Paradoxon des Helmut Kohl angesehen werden: Sein Name wird mit Ereignissen und Initiativen verbunden bleiben, die ursprünglich gar nicht auf seiner Agenda standen. Das Metier, das er als sein eigentliches ansah, die pragmatische Weichenstellung für wirtschaftliche, fiskalische und soziale Stabilität, hat er nicht beherrscht.

 

Stichwort: Mantel der Geschichte

Das Verdienst, 1989/90 in den Monaten des Umbruchs im Osten den „Mantel der Geschichte“ ergriffen zu haben, wird Helmut Kohl kaum jemand streitig machen können. So mancher Widersacher in der Sozialdemokratie wäre ihm hier gerne in den Arm gefallen. Allerdings war auch unvorhersehbares Glück auf seiner Seite. So ist bis heute kaum nachzuvollziehen, warum Michael Gorbatschow eine Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands zur Nato akzeptierte. Auch ließ das ad hoc nicht zu revidierende Verfassungsrecht Helmut Kohl keine andere Wahl: Die DDR galt für die alte Bundesrepublik bis zuletzt nicht als Ausland. Dem immer größeren Druck ausübenden Flüchtlingsstrom war somit kein legaler Riegel vorzuschieben.

Foto: Helmut Kohl: Als er 1998 abgewählt wurde, hatten sich alle Probleme, zu deren Bewältigung er angetreten war, deutlich verschärft

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