© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Beziehungskisten
Mißbrauch: Die aktuelle Kampagne bedient die Bestrebungen, die Refugien des Bildungsbürgertums zu enteignen
Thorsten Hinz

Der Erziehungswissenschaftler Hartmut von Hentig, Lebensgefährte des früheren Leiters der Odenwaldschule, Gerold Becker, ist der Sohn des Diplomaten Werner Otto von Hentig. Dessen Vorgesetzter im Auswärtigen Amt war seit 1938 Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bundespräsidenten. Gerold Becker wiederum, der jetzt den sexuellen Mißbrauch von Schülern eingeräumt hat, war Schützling des Bildungswissenschaftlers Hellmut Becker, Sohn eines preußischen Kultusministers.

Wie aus Ulrich Raulffs Buch „Kreis ohne Meister“ (JF 43/09) über das Nachleben Stefan Georges hervorgeht, unterhielt Hellmut Becker, mehrfacher Vater und nicht mit Gerold Becker verwandt, erotische Beziehungen zu begabten jungen Männern. Als Rechtsanwalt hatte er Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozeß 1948/49 so gut es ging rausgepaukt. Ein Sohn Richard von Weizsäckers wiederum absolvierte die Odenwald-Schule.

Becker, Hentig, Weizsäcker: Es sind die Beziehungskisten alter konservativer Eliten, teilweise dem Beamtenadel angehörig, die ihre Stellung bis weit in das zwanzigste Jahrhundert behauptet haben, indem sie sich betont linksliberal und fortschrittlich gerierten. Die sexuelle Revolution der sechziger Jahre gab einigen von ihnen Gelegenheit, den pädagogischen Eros, den der von ihnen verehrte Stefan George ins Ästhetische sublimiert hatte, ungeniert zu überdehnen.

Die Vorwürfe über die Odenwaldschule liegen schon seit mehr als zehn Jahren auf dem Tisch. Jemand wird wohl die schützende Hand über die Beschuldigten gehalten haben. Doch jetzt brechen die Dämme auf der ganzen Linie. Wir erleben, wie die letzten vorbundesrepublikanischen Traditionsbestände und Eliten abgeräumt werden, die in Habitus und Korpsgeist noch immer über die Bundesrepublik hinauswiesen, wie treulos auch immer.

Soll man das unter ausgleichender Gerechtigkeit verbuchen? Skepsis ist angebracht. Die Zivilgesellschaft ist eine moderne Massengesellschaft, deren stärkster Antrieb im Egalitarismus liegt. Die aktuelle Kampagne bedient die Bestrebungen, die Eliteschulen, Internate, Gymnasien als Refugien der Bildungsbürgerlichkeit zu kontrollieren (neudeutsch: „transparent zu machen“) und zu enteignen. Der Staat ist daran gleichfalls interessiert.

Noch schlimmer als das demographische ist das umfassendere bevölkerungspolitische Desaster. Ein Großteil der Kinder, die heute in Deutschland geboren werden, entstammt Unterschichtenfamilien, die ihnen weder intellektuelles noch soziales, noch anderes Kapital mit auf den Weg geben können. Was liegt also näher, als die gehegten Potentiale, die es noch gibt, aus den Fluchtburgen zu zerren und zu sozialisieren, damit das System noch ein bißchen weiterwursteln kann?

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