© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

„Wahrlich, ich sage euch: Gott ist tot“
Michel Mourre teilte Nietzsches Trauer und wurde dafür Ostern 1950 durchs Kirchenschiff von Notre Dame gejagt und verhaftet
Karlheinz Weissmann

Der Ostersonntag 1950 war ein Tag des Skandals. Während der Meßfeier in Notre Dame hatte sich ein Mann im Habit der Dominikaner an das Lesepult gestellt und einen Text verlesen, in dem es hieß:

„Heute, am Ostertag des Heiligen Jahrs; / Hier, unter dem Zeichen von Notre Dame de Paris, / Klage ich die universale katholische Kirche an, der tödlichen Ablenkung unseres Lebenskraft auf einen leeren Himmel, / Ich klage die katholische Kirche an zu lügen, / Ich klage die katholische Kirche an, die Welt mit ihrer Grabesmoral zu infizieren, / Daß sie die schwärende Wunde am verwesenden Körper des Westens ist. / Wahrlich, ich sage euch: Gott ist tot. / Wir speien die Lauheit eurer Gebete aus, / Denn eure Gebete waren der schmierige Rauch über den Schlachtfeldern unseres Europa. / Geht fort in die tragische und erhabene Wüste einer Welt, in der Gott tot ist, / bis die Erde erneuert ist mit euren bloßen Händen, / Mit euren stolzen Händen, / Mit euren Händen, die nicht beten. / Heute, Ostern des Heiligen Jahres, / hier unter dem Zeichen von Notre Dame de Paris, / Verkünden wir den Tod des Christengottes, auf daß der Mensch lebe zuletzt.“

Das Ereignis ist heute vergessen, man findet einen Hinweis bestenfalls in den „Lipstick Traces“ von Greil Marcus, dem Buch, das die künstlerischen Avantgarden in der „geheimen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ behandelt. Da gibt es auch einen Abschnitt über die „Lettristen“, eine Gruppe von jungen Leuten im Paris der Nachkriegszeit, die Buchstaben und Slogans auf ihre Kleidung nähten und eine Weltanschauung pflegten, in der sich Dada, Existentialismus und Nietzsche mischten. An Nietzsches Rede vom „tollen Menschen“, der den Tod Gottes verkündet und schließlich in einer Kirche das Te deum zu Ehren des Verblichenen anstimmt, war die Aktion der Lettristen in Notre Dame orientiert gewesen. Bedeutsamer dürfte aber noch gewesen sein, daß der Mann, der den Text vorgetragen hatte, mit Nietzsche die Trauer über den Tod Gottes teilte, den „wir“ durch Unglauben getötet haben.

Sein Name war Michel Mourre, zum Zeitpunkt der „Notre-Dame-Affäre“ gerade zweiundzwanzig Jahre alt. 1928 als Sohn eines Architekten in der Provinz geboren, wuchs er im juste milieu der bürgerlichen Klasse heran. Der Vater gehörte zu den Stützen der Dritten Republik: Radikalsozialist – also weder Radikaler noch Sozialist –, Bourgeois, Freimaurer, Pfaffenfresser, Feinschmecker und Libertin. Außer dem Rat, sich anzupassen, hatte Mourre in dieser Umgebung keine Orientierung erhalten. Nach dem frühen Tod der Mutter zog der Vater mit seiner Geliebten zusammen und schob den Jungen zu den Großeltern ab, die ihm seinen Willen ließen. Mourre war ein Herumtreiber und schlechter Schüler, las aber viel, wenngleich wahllos. In der Endphase des Krieges schloß er sich – eher aus Trotz denn politischer Überzeugung – der Kollaboration an, wurde nach der Befreiung Frankreichs festgesetzt und für kurze Zeit inhaftiert. Im Gefängnis erlebte er zum ersten Mal einen Gottesdienst, bekehrte sich und nahm die Taufe.

Während dieser Zeit entdeckte Mourre außerdem die Schriften von Charles Maurras, des Denkmeisters der französischen Rechten, damals ein Verfemter, wegen seiner Unterstützung des Vichy-Regimes zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber seine Anhänger hielten ihm die Treue ,und so geriet Mourre in die Zirkel der Royalisten, für die Katholik-Sein so selbstverständlich war wie Franzose-Sein. Es ging dabei um eine Religiosität, die sich auf die Form konzentrierte, so wie auch der politische Entwurf von Maurras immer auf die Form konzentriert war. Das faszinierte Mourre eine gewisse Zeit, aber nicht auf Dauer, so wenig wie die Idee des „ewigen Frankreich“, das längst zum Schemen verblaßt war: „Von der Vergangenheit konnte man träumen, aber sie leben?“

Mourre verlor jedenfalls rasch das Interesse an der Ideologie, gab seine sichere Stellung in der Verwaltung auf, meldete sich 1948 zum Militärdienst und ging als Besatzungssoldat nach Deutschland. Auch das war ein Akt der Suche, und wieder vergeblich, schmerzvoll sogar, „das Volk der Ritter meiner Träume uns kümmerlichen Siegern gefügig zu sehen“. Nachdem eine unentdeckt gebliebene Erkrankung diagnostiziert worden war, entließ man Mourre aus der Armee. Er kehrte nach Hause zurück und vollzog einen letzten radikalen Schritt: Er trat als Novize in den Dominikanerorden ein. Trotz seiner Jugend glaubte er, damit seine Bestimmung gefunden zu haben. Er lebte für einige Zeit in der Beschaulichkeit des Konvents von Saint Maximin in der Provence, fügte sich willig der Disziplin und erledigte seine Aufgaben. Trotzdem blieb ein Ungenügen.

Die Weltanschauung war es nicht gewesen, das Vaterland auch nicht, und nun versagte die Kirche vor seinen hochgespannten Erwartungen: „Heilig – das war sie wohl immer noch. Doch weltumfassend? Apostolisch? Wo waren der Wagemut, die Verwegenheit der ersten Zeiten geblieben?“

Und: „Die Kirche mußte endlich wieder auf den Plan treten! Man durfte sich ihrer nicht mehr schämen, Christus nicht im Dunkel der Kapellen verbergen, die Heiligen in ihren Stucknischen nicht Erkältungen aussetzen – mußte aller Welt das Ärgernis des Kreuzes aufzwingen, es als untilgbaren Vorwurf erheben, den Menschen zu ewiger Reue wie zu letzter Verheißung (…) Der Name Christi mußte einer verrotteten Welt ins Gesicht geschrien, ihr das Vergnügen an krankhaften und schmutzigen Dingen verdorben, ihr wahre Gottesfurcht beigebracht und – vor allem – ihr wieder vor Augen geführt werden, daß die Kirche nicht verständig geworden, daß sie nach wie vor vom göttlichen Wahn besessen war, nicht duldsam, sondern würdig der göttlichen Unduldsamkeit wider den Irrtum und das Böse.“

Mourre hatte sich zwar intensiver mit dem Thomismus beschäftigt, aber seine Kirchenväter waren nicht unter den Theologen zu finden, weder denen der Vergangenheit noch denen der Gegenwart, eher in der Literatur des renouveau catholique: Charles Peguy, Léon Bloy, Georges Bernanos. Freilich war deren Resonanz am Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Intelligenz sich wieder dem Glauben zuzuwenden schien, ungleich größer als nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwar gab es eine gewisse restaurative Neigung, ein ästhetisches Interesse an frommen Themen und selbstverständlich den gesellschaftlichen Einfluß der Kirche, aber über den Abbau, das Zurückweichen, das Fehlen eines echten Selbstbewußtseins konnte das alles nicht hinwegtäuschen.

Mourre scheint besonders empfindlich gewesen zu sein für die Vorzeichen des Verfalls, die unmittelbar auf seine eigene Religiosität zurückwirkten: „Allmählich, ohne irgendeine Gemütsbewegung, die mich erschreckt und gewarnt hätte, verlor ich ... den Glauben“. So wie er ohne dramatische Bekehrung die Erlösung durch Christus, die Trinität, die Jungfräulichkeit Mariens und die Wandlung in der Eucharistie zu glauben begonnen hatte, hörte dieser Glaube wieder auf.

Mourre zog auch jetzt die Konsequenz, verließ den Orden, ging wieder nach Paris, verbummelte seine Tage in den Cafés von Saint Germain des Prés, ein Bohémien unter Bohémiens. Darf man den Schilderungen seines Freundes Armin Mohler glauben, waren seine Lebensumstände mehr als abenteuerlich. Aber fertig war er noch nicht mit der letzten großen Sache, der er sich verschrieben hatte. Vielleicht fiel der Entschluß zu der Aktion in Notre Dame tatsächlich erst zwei Tage vorher, aber der Wunsch, sich an Gott zu rächen, muß längst schon mächtig gewesen sein.

Das Vorgehen der Lettristen erinnert an spätere Happenings, aber man darf die Zeitumstände nicht vergessen. Das Frankreich des Jahres 1950 war ein anderes als das des Jahres 1968. Nachdem die Besucher der Ostermesse begriffen, was Mourre getan hatte, jagten sie ihn durch das Kirchenschiff, nur mit einiger Mühe konnte er sich vor der aufgebrachten Menge in Sicherheit bringen. Die Polizei verhaftete ihn, nach kurzer Zeit wurde er an die Psychiatrie überstellt. Der Gottesdienst war zum ersten Mal im Fernsehen übertragen und in alle französischsprachigen Länder ausgestrahlt worden. Insofern war das Ganze auch ein Medienereignis und führte zu Debatten nicht nur im Land selbst. Dabei überwog anfangs Empörung, aber das änderte sich, nachdem die einflußreiche Zeitschrift Combat den Fall eine Woche lang in jeder Nummer behandelte und die redaktionelle Position von scharfer Ablehnung zu einer differenzierten Einschätzung überging.

Grund dafür war nicht nur die nachträgliche Entschuldigung Mourres, sondern auch ein Stimmungsumschwung in der Öffentlichkeit. Die Aktion der Lettristen hatte offenbar als Anstoß gedient, um über die Bedeutung des Glaubens und die Authentizität der üblichen Glaubenspraxis nachzudenken. Mourre wurde nach vierzehn Tagen aus der Psychiatrie entlassen, gab den Kontakt zu seinen alten Freunden auf, schloß sich in seiner Bibliothek ein und begann ein Buch über seine Entwicklung zu schreiben, das unter dem Titel „Malgré le blasphème“ erschien.

Der deutsche Titel „Gott ist tot?“ wirkt nichtssagender, ohne daß das dem Erfolg geschadet hätte. Die Übersetzung erschien in einem renommierten katholischen Verlag und wurde zum Anlaß einer intensiven Diskussion, nicht nur in kirchlichen Kreisen der Bundesrepublik. Aber der Ruhm verging rasch. In Deutschland blieben Mourre nur einige Bewunderer, darunter Carl Schmitt und Ernst Jünger.

Jünger erwähnte in seinen Tagebüchern auch Mourres mehrbändiges „Dictionnaire d’ Histoire Universelle“ (Lexikon der Universalgeschichte, kurz „der Mourre“), in dem ein enzyklopädisches Wissen verarbeitet war und das deutsche Universitäten bis heute in ihren Präsenzbestand stellen. Mit solchen und anderen Nachschlagewerken (und einzelnen Monographien) hat Mourre in der folgenden Zeit seinen Lebensunterhalt bestritten, seine Rolle im literarischen Paris geriet darüber in Vergessenheit wie der Notre-Dame-Skandal. Nur ein paar Anarchisten bewahren ihm ein ehrendes Andenken. Er selbst lebte ein exzentrisches, jedenfalls rastloses Leben und hat die innere Ruhe, die er so ersehnte, wohl nie gefunden. Michel Mourre starb 1977, nur neunundfünfzig Jahre alt, an einem Gehirntumor.

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