© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/10 02. April 2010

Laogai – das unbekannte Archipel Gulag der Chinesen
Ein Überlebender des kommunistischen Lagersystems, dem Millionen von Chinesen zum Opfer gefallen sind, hat eine erschütternde Autobiographie vorgelegt
Fabian Schmidt-Ahmad

Das deutsche Wort „Konzentrationslager“ dürfte kaum jemandem in der westlichen Welt unbekannt sein. Anders sieht es mit dem Wort „Gulag“ aus, das schon eine gewisse historische Bildung voraussetzt. Doch wie schaut es mit den „Laogai“ aus, den Arbeitslagern der Kommunistischen Partei Chinas? Wie vielen Menschen ist schon diese Variante des Totalitarismus geläufig? Dabei stehen die Laogai – ein chinesisches Kürzel für „Reform durch Arbeit“ – ihren Verwandten in der Bedeutung nicht nach. Die Laogai Research Foundation schätzt, daß seit 1949 vierzig bis fünfzig Millionen Menschen in diesen Lagern inhaftiert wurden. Ungefähr die Hälfte von ihnen kam dabei um.

Doch hinter dieser abstrakten Statistik – China nennt bis heute keine offiziellen Zahlen – steht die Frage nach dem menschlichen Schicksal: Welche Folgen hatte es für den einzelnen, der in die Mühlen dieses gewaltigen System geriet? Der Gründer und Vorsitzende der Laogai Research Foundation, deren Ziel es ist, über die bis heute existierenden Lager aufzuklären, hat nun mit seiner Biographie ein beeindruckendes Zeugnis abgelegt. Es ist die Lebensgeschichte eines Mannes, der von 1960 bis 1979, von seinem 23. bis 42. Lebensjahr, eine Odyssee durch den Mikrokosmos totalitärer Gewalt durchleben mußte.

„Mao Tse-tung benutzte immer gerne Prozentzahlen, um das politische Leben zu kontrollieren. Wenn er sagte, ungefähr fünf Prozent der Intellektuellen seien Rechtsabweichler, dann war das eine politische Richtlinie.“ Die Beschreibung der „Anti-Rechts-Kampagne“, der auch Wu zum Opfer fiel, hat einen Alptraumcharakter: „Um zu demonstrieren, sie hätten den Geist des Großen Führers erfaßt, gingen die Führer aller gesellschaftlichen Ebenen noch über diese Kennzahl hinaus, da es ihnen lieber war, ‘nach links zu tendieren, als irgendeine Spur einer Rechtstendenz aufzuweisen’.“ Für die „Rechtsabweichler“ gab es keine juristischen Verfahren, „man behandelte sie als interne Widersprüche des Volkes“.

Probates Mittel zur totalen Umformung war das System der Laogai, die noch vor ihrer ökonomischen Bedeutung den „Neuen Menschen“ zum Ziel hatten. Der katholisch getaufte Sproß einer bürgerlichen Familie, begabter Student der Geowissenschaften, war durch diese Eigenheiten schon schuldig genug. „Ich bin ein jämmerlicher konterrevolutionärer Abweichler“ – so oder so ähnlich begannen die unzähligen Verhöre, die von Schlägen und öffentlichen Demütigungen begleiteten „Kampf- und Kritiksitzungen“, in welchen das Opfer „freimütig und aufrichtig“ seine „konterrevolutionären Verfehlungen“ bekennen und den „falschen Standpunkt zur Masse“ eingestehen sollte.

Eine Ideologisierung, die sämtliche sozialen Beziehungen auflöste und auch die traditionelle chinesische Familienbindung zerstörte. So endet der einzige Brief, den Wu in dieser Zeit von seiner Familie erhielt, mit den Worten: „Du mußt in jeder Hinsicht aufpassen, die Lehren des Vorsitzenden Mao befolgen und dich durch Arbeit gut umgestalten. In politischer und ideologischer Hinsicht hat die Familie einen klaren Trennungsstrich zwischen ihr und dir gezogen. Wir hoffen, daß du dich bald in einen neuen Menschen umwandeln wirst.“ Ergänzt wurde dieser psychische Terror durch absolute soziale Kontrolle, welche gar nicht so sehr das Wachpersonal als vielmehr die Häftlinge aufeinander ausübten.

Administrative Kontrolle ging vor allem durch die Verteilung von Lebensmitteln aus. „Hunger ist ein äußerst effektives Instrument in den Händen des Tyrannen. Hunger kann den Willen eines Menschen total zerstören und sein Gewissen vollkommen auslöschen.“ Ein halbes Brötchen mehr für den Denunzianten konnte jede „konterrevolutionäre Cliquenbildung“ schon im Ansatz zerstören: keine Gruppen-, keine Einzel­identität mehr, nur noch die entmenschte Masse der „klassenlosen Gesellschaft“. So waren die Laogai tatsächlich Abbild des verwirklichten Kommunismus.

„Die Sicherheitsbeamte sagten uns, daß Arbeit zwar eine Strafe, aber eben auch eine Ehre sei; sie sei eine Gelegenheit, die uns von der Partei gegeben wurde, damit wir uns selbst zum neuen Menschen umgestalten konnten, weshalb wir sehr dankbar zu sein hätten.“ Nicht trotz, sondern wegen dieser rücksichtslosen Quälerei, den beständigen Tod vor Augen, liebten die Häftlinge die Partei wirklich – war doch nur ihre individuelle Unzulänglichkeit für die Folter verantwortlich. „Tränen der Dankbarkeit“ wären geflossen und die „unendliche Gnade“ des Großen Führers gepriesen worden, hätte man die „Rechtsabweichler“ entlassen. Doch die Laogai ließen niemanden einfach so gehen. Dafür ist die Seele des Menschen eine zu köstliche Speise.

Harry Wu: Donner der Nacht. Mein Leben in chinesischen Straflagern. Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2009, gebunden, 352 Seiten, 19,90 Euro

Die Laogai Research Foundation im Internet: www.laogai.org

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