© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Blutige Rache
Rußland: Nach den Terroranschlägen sieht sich Medwedew zur Vergeltung gezwungen / Stabilisierung durch Recht und Wiederaufbau
Alexander Rahr

Die Bombenanschläge in der Moskauer Metro und im Kaukasus haben die Weltöffentlichkeit geschockt. Der Tschetschenien-Konflikt schien beendet, Rußland wurde fast schon als Partner des Westens bei der Befriedung Afghanistans betrachtet. Nun steht Rußland möglicherweise eine neue Terrorwelle bevor. Der neue Chef der Islamisten, Doku Umarow, hat 2007 im Nordkaukasus ein „Kalifat“ ausgerufen, das sich einmal bis zu den islamischen Republiken in Zentralrußland, Tatarstan und Baschkyrtostan, erstrecken soll.

Der 45jährige Tschetschene, der sich inzwischen „Abu-Usman“ nennt, will den Terror jetzt in die russischen Städte tragen. Daß Rußland Vergeltung üben wird, versteht sich von selbst: „Wir müssen den Terroristen scharfe Dolchhiebe versetzen, sie und ihre Schlupfwinkel zerstören“, sagte Dmitrij Medwedew vorige Woche bei einer Visite in Dagestan. Manche befürchten deshalb, daß die liberale Modernisierungspolitik des russischen Präsidenten dem Antiterrorkampf geopfert wird.

Warum kommt der Nordkaukasus nicht zur Ruhe? Liegt, wie viele im Westen glauben, eine Schuld auf der russischen Regierung, weil sie dort eine zu harte Ordnungspolitik betreibt, beispielsweise Tatverdächtige einfach verschleppt? Warum können die mit modernster Kampf- und Navigationstechnik ausgerüsteten russischen Spezialtruppen die sich in den nahen Bergen versteckenden Islamisten nicht ausschalten? Wie groß ist die Unterstützung für die Idee eines „Emirats“ unter der islamischen Bevölkerung des Nordkaukasus wirklich? Oder sind die nordkaukasischen Islamisten längst Teil des globalen Terrornetzwerks al-Qaida geworden, gegen das auch die Nato in Afghanistan oder im Irak vergeblich ankämpft?

Administrative Grenzen vom Kreml willkürlich gezogen

Manche Beobachter fragen sich, warum Rußland die islamischen Völker des Nordkaukasus nicht allesamt in die Unabhängigkeit entläßt und sich damit heutige und künftige Probleme vom Hals schafft. Selbst der russische Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn hatte die Abspaltung des rebellischen Kaukasus vorgeschlagen. Doch über die Hochgebirgsregion verlaufen einige Öl- und Gaspipelines, die für die Energiegroßmacht Rußlands von strategischer Bedeutung sind. Zudem sind die zu verschiedenen Religionen und Sprachfamilien gehörigen Bergvölker des Nordkaukasus miteinander verfeindet, ihre administrativen Grenzen sind einst willkürlich vom Kreml gezogen worden. So gehört die Republik Nordossetien-Alanien zu Rußland, während Südossetien nach dem Zerfall der Sowjetunion Teil Georgiens wurde. 2008 erkannte Moskau die Unabhängigkeit Südossetiens an. Irgendwann werden sich die iranischsprachigen, überwiegend christlichen Osseten vereinigen – und der nächste Konflikt droht.

Ein völliger Abzug der russischen Ordnungsmacht aus dem Nordkaukasus würde die Region in ein zweites Afghanistan verwandeln. Die Terrorgefahr für Rußland wäre alles andere als gebannt. Präsident Boris Jelzin, der noch in seiner Rolle als demokratischer Oppositionspolitiker allen Teilrepubliken der Russischen Föderation versprochen hatte, sie dürften sich „soviel Freiheiten nehmen, wie sie verdauen könnten“, führte einen Krieg gegen das nach Unabhängigkeit strebende Tschetschenien, der in einer Kapitulation Rußlands endete. Sein Nachfolger Wladimir Putin konnte Tschetschenien zurückerobern und durch die Einsetzung eines lokalen Clanchefs, Ramsan Kadyrow, unter Moskauer Kontrolle stellen. Die Loyalität Kadyrows ging sogar soweit, daß er seine tschetschenische Garde im August 2008 an der Seite der russischen Armee gegen Georgien kämpfen ließ.

In den gegenwärtigen nordkaukasischen Konflikten geht es längst nicht mehr um die Unabhängigkeit der Teilrepubliken von Moskau. Die meisten Bewohner der Region erwarten sich von den Islamisten keine Alternative. Medwedew schien noch vor wenigen Wochen einen positiven Richtungswechsel in der russischen Kaukasus-Politik anzustreben, weg von einer reinen Gewaltausübung gegen Opponenten, hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit und verschärftem Kampf gegen die katastrophale Korruption und Vetternwirtschaft.

Andere Analytiker fragen sich, warum der islamische Fundamentalismus im Nordkaukasus stärkere Wurzeln schlägt als in den zentralrussischen islamischen Republiken. Anders als die im Föderationskreis Wolga gelegenen rohstoffreichen Turk-Republiken Tatarstan und Baschkortostan bleiben die nordkaukasischen Provinzen das Armenhaus Rußlands. Außerdem bedeutet die geographische Nähe des Nordkaukasus zu anderen Krisengebieten am Kaspischen Meer und Mittleren Osten auch eine leichtere Infiltrierung der örtlichen islamistischen Bewegung mit Söldnern, Haßpredigern und Waffen aus der arabischen Welt. Und schließlich hat Moskau im Kaukasus durch jahrelange Gewaltanwendung viel Haß gesät.

Schon bald ist eine neue Großoffensive russischer Spezialtruppen in Inguschetien und Dagestan zu erwarten – jenen Republiken, in die sich die Islamisten nach der russischen Wiedereinnahme Tschetscheniens zurückgezogen haben. Aus dem von zahlreichen Ethnien bevölkerten Dagestan kamen auch die beiden Selbstmordattentäterinnen der Moskauer Anschläge. Den selbsternannten Emir Umarow wird der russische Geheimdienst wohl aufspüren – wie er alle Terrorchefs nach und nach gefunden und getötet hat. Eine langfristige Stabilisierung der Region kann aber nur über einen Wiederaufbau der Wirtschaftsstrukturen und eine Wiederherstellung ziviler Ordnung erfolgen.

 

Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (www.dgap.org).

Foto: Mutmaßliche Selbstmordattentäterin mit 2009 getötetem Ehemann: Angst vor „Schwarzen Witwen“

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