© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Die Lunte brennt bereits
Pulverfaß Krim: Die Tataren kämpfen um ihre Rechte – die Russen mit Gewalt dagegen
Lubomir T. Winnik

Sie sind sympathisch in Umgang, gelten als sehr fleißig, mögen Ordnung, sind ausgesprochen gastfreundlich und kämpfen für ihr Recht: die Tataren auf der Krim. Doch deren Kampf um Mitsprache, Siedlungsraum und Traditionspflege stößt auf den Haß der russischen Nachbarn. Fern aller Urlaubsphantasien schwelt auf der Halbinsel im Schwarzen Meer ein Konflikt, der sich jederzeit zum Flächenbrand ausweiten könnte.

Die hohe Geburtenrate ist das Machtmittel der Tataren

Sympathisch, gastfreundlich? Blickt man zurück, mag man kaum glauben, daß es sich um dasselbe Volk handelt, dessen Namen einst ganz Südosteuropa in Angst und Schrecken versetzte – die islamischen Tataren. In der Ukraine etwa gelten Worte wie Tschuma (Pest) und Tataren bis heute als Inbegriff des Grauens. Nicht von ungefähr – denn die Nachkommen der Goldenen Horde machten diesen Begriffen alle Ehre.

Jahrhundertelang fielen sie in das Land aus zwei Richtungen ein – die Nogaier Tataren vom Osten, vom Vorkaukasus, und die Krimtataren von der Halbinsel im Süden. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie mit Raubzügen und Menschenjagd auf die Gjauren, das heißt auf die christlichen Ukrainer, Moldauer und Russen. Diejenigen von ihnen, die die mörderischen Fußmärsche überlebten, landeten auf den Sklavenmärkten von Istanbul. Über drei Millionen Menschen soll dieses Schicksal in fast 350 Jahren ereilt haben.

So lange bestand das Khanat der Krimtataren. Als Vasall des Osmanischen Reichs bildete es mit seinen bereitgestellten berittenen Truppen einen wichtigen Standpfeiler des osmanischen Heeres und prägte die Kultur der Krim.

Das Unglück der Tataren begann mit der Herrschaft Rußlands. Getrennt vom muslimischen Verbündeten – der Türkei –, unterlagen sie seit Ende des 18. Jahrhunderts der Entrechtung und rassistischen Verfolgung und wurden in eine Art Reservat gedrängt (Politik der „Enttatarisierung“). Während Tausende ins Ausland (Türkei) flohen, wurden russische Kolonisten angesiedelt. Zwar brachte der Zerfall des Zarenreichs 1917 die ersehnte nationale Unabhängigkeit, doch die wurde nach nur einem Jahr von der Roten Armee beendet. Die Russifizierung fand ihre Fortsetzung.

Ähnlich wie manche osteuropäische Völker sahen die Tataren in den Deutschen keine faschistischen Aggressoren, sondern potentielle Verbündete in ihrem Befreiungskampf gegen den Erzfeind Moskau. Entsprechend meldeten sich zu Beginn des Jahres 1942 fast 10.000 junge Tataren zum Dienst in den Hilfswilligenverbänden von SS und Polizei. Die Schar der Freiwilligen wuchs schnell auf 20.000 Kämpfer, die in acht Schutzmannschaftsbataillone zur Bekämpfung sowjetischer Partisanen eingeteilt wurden. Nach der Eroberung der Krim im Mai 1944 durch die Sowjets wurde in Ungarn aus den evakuierten Tatareneinheiten die Waffen-Gebirgsbrigade der SS aufgestellt. Währenddessen fielen auf der Krim Tausende Tataren der Rache Stalins zum Opfer. Fast das gesamte Volk – um 193.865 Menschen – wurde nach Sibirien und Zentralasien deportiert.

Der Sürgün (Vertreibung) endete erst 1989, als die zerfallende UdSSR diese für „gesetzeswidrig und verbrecherisch“ erklärt hatte. Die Rückkehr der Krimtataren in die nunmehrige Autonome Republik Krim, die staatsrechtlich zur Ukraine gehört, stand wieder frei. Lebten dort 1989 nur noch 46.899 Krimtataren, stieg deren Zahl dank der Rückkehrer auf knapp 280.000. Fast alle lassen sich auf der Krim nieder und sorgen mit ihren begründeten Forderungen für erheblichen Unmut. Die hohe Geburtenrate spricht für sich; sechs Kinder pro Familie sind beinahe die Regel.

Der zunehmende Nachdruck, mit dem tatarische Interessen vorgetragen werden, erregt Besorgnis unter den rußlandtreuen Siedlern, die noch knapp 60 Prozent der Krimer Bevölkerung (25 Prozent Ukrainer, 13 Prozent Tataren) ausmachen. Die von ihnen beherrschten Behörden verweigern den Tataren die Rückgabe ihres rechtmäßigen Eigentums. Generell werden die Nachfahren der Khane diskriminiert und ihre Anliegen politisch und administrativ mißachtet. In den Behörden der Autonomen Republik gibt es kaum Vertreter des krimtatarischen Volks.

Ein kleiner Funke kann zum Flächenbrand werden

 Tatarische Einrichtungen werden demoliert oder zerstört. Und tritt irgendwo ein Häuflein Tataren an die Öffentlichkeit, um an einen eingeebneten muslimischen Friedhof zu erinnern, treten gut­organisierte russische paramilitärische „Kosaken“-Schlägerbanden in Aktion. Gewalttätige Auseinandersetzungen sowie Überfälle auf tatarische Aktivisten gehören mittlerweile zum Alltag.

Die Stimmung ist explosiv. Kein Wunder, daß der Präsident der tatarischen Volksversammlung (Medschlis), Mustafa Džemilev, die Frage, ob die Tataren zur Bildung eigener paramilitärischer Schutzverbände schreiten könnten, schon im Sommer 2008 mit klaren Worten beantwortete: „Solche Forderungen werden im Medschlis immer lauter, und ich habe zunehmende Schwierigkeiten, diese zu bremsen“, denn „wenn auch wir diesen Weg einschlagen, kommt es auf der Krim zu Chaos, Blutvergießen und dann lassen sich gar keine Probleme mehr lösen.“

Was tun? Das Verhalten der ukrainischen Behörden blieb in der Tataren-Frage bis dato zögerlich. Keine Regierungsmannschaft hat es bislang gewagt oder gewollt, den legitimen Forderungen der Rückkehrer voll nachzugeben.

Dieses Verhalten ist primär der kolonialen Hinterlassenschaft in Gestalt von acht Millionen Russen im Osten und Süden der Ukraine geschuldet, welche jegliche Form der ukrainischen Souveränität ablehnen und so eben auch die Lage auf der Krim in einem brandgefährlichen Schwebezustand halten.

Ob die neuen russophilen Machthaber in Kiew die Lösung des Tatarenproblems bewirken werden, bleibt fraglicher denn je. So berichtet die russische Nowaja Gaseta (22. März 2010) über die feindselige Haltung der Tataren gegenüber der Regierung Janukowitsch: „Die Krimtataren halten den neuen ukrainischen Innenminister Anatoli Mogilow für ihren Feind, welcher vor zwei Jahren als Krimer Polizeikommandant im Ort Ai-Petri ‘Tausende Soldaten mit gepanzerten Fahrzeugen gegen wehrlosen Tataren geschickt hatte’, sagte der Stellvertretende Präsident des Medschlis, Refat Tschubarow. ‘Dieser Mann stellt eine Gefahr für den Frieden auf der Krim dar. Da ist nun jemand im Amt, der Xenophobie und nationale Feindschaften nicht etwa bekämpft, sondern selber dazu beiträgt, sie zu entfachen’, meinte hingegen Mustafa Džemilev, Präsident des Medschlis.“

Jederzeit kann es zu einer Gewalteskalation kommen

Kein gutes Zeichen für die Zukunft – das Schicksal der Krimtataren bleibt ungewiß. Jederzeit kann es zu einem neuen Überfall der russischen Schläger oder zur Gewaltintensivierung der muslimischen Tataren selbst kommen, die ihren Unmut bisher nur auf friedliche Weise äußern, wie es etwa bei der Demonstration zum 65. Jahrestag der Massendeportation am 18. Mai 2009 in Simferopil geschah. Die Lunte brennt bereits.

 

Die Geschichte der Krimtataren

13. Jahrhundert

Die historische Ukraine – Kiver Rus – und damit auch die Krim geraten unter Herrschaft der Mongolen.

 

15. Jahrhundert

In Bachtschyssaraj gründet 1441 eine Absplitterung der zerfallenen Goldenen Horde – die Tataren – ein Turkvolk der Kiptschaker-Gruppe, das muslimische Khanat der Krim. Dies unterstellt sich im Jahr 1475 dem Osmanischen Reich.

 

1441 bis 1774

Als Vasall des Osmanischen Reiches erleben das Khanat der Krimtataren und der Islam ihre Blütezeit. Infolge des Russisch-Türkischen Krieges (1770–74; Frieden von Kütschük Kainardscha) gerät die Krim unter russischen Einfluß.

 

1783

Die Krim wird dem Russischen Reich eingegliedert. Die tatarische Sprache und Kultur werden verfolgt, Tausende flüchten vor den Deportationen nach Rußland in die Türkei oder nach Ungarn. Beginn Ansiedlung russischer Kolonisten.

 

1854/1856

Infolge des Krimkriegs, bei dem die Tataren keinen Hehl aus ihren Sympathien zum Osmanischen Reich gemacht hatten, emigrierte eine große Anzahl von Tataren aus Furcht vor Repressalien in die Türkei.

 

1917–1918

Eigenständige Tatarische Republik Taurien.

 

1921

Die Krim wird zur autonomen sozialistischen Sowjetrepublik erklärt. Erste Hungersnot. 15 Prozent der Tataren sterben.

 

1926–1930

Sowjetische Kollektivierung der Krim. Die Tataren verlieren ihr Hab und Gut. Die zweite Hungersnot bricht aus.

 

1944

Deportation der Krimtataren. Vorwurf: Kollaboration mit dem Deutschen Reich. An ihrer Stelle kommen die Russen, vorwiegend KGB- und Parteifunktionäre, Militäreliten und das Wirtschaftsestablishment. Die Krim verliert ihren Autonomiestatus.

 

1954

Sowjetführer Chruschtschow schenkt der Ukrainischen Sowjetrepublik die Halbinsel Krim.

 

1989

Die Krimtaren dürfen zurückkehren, nachdem sie bereits im Jahr 1967 rehabilitiert worden waren.

 

seit 1991

Die ukrainische Autonome Republik Krim gerät immer wieder zum Streitfall zwischen der Ukraine und Rußland. Grund: Die Russen, die mit knapp 60 Prozent die Mehrheit der zwei Millionen Einwohner stellen, machen keinen Hehl aus ihren pro-russischen Interessen.

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