© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Pankraz,
Björn Clemens und die Stunde Null

Rudi Dutschke war der größte Deutsche nach 1945, einer der wenigen Deutschen, der nach der nullten Stunde überhaupt dieses Prädikat verdient. (…) Es ist kein Zufall, sondern metaphysische Konsequenz, ja Notwendigkeit, daß die Kugeln, die die Springerhetze in den Revolver des Attentäters schob, gerade den großen Visionär der Zukunft zur Strecke brachten.“

Wo steht so etwas geschrieben? Riskiert die Berliner Tageszeitung (taz) heute noch solche Töne? Konkret? Das Neue Deutschland? Nein, die Sätze entsprossen dem Laptop eines kreuzbraven Düsseldorfer Rechtsanwalts, der an sich sehr vernünftige juristische Ansichten hegt und ab und zu sogar Leute verteidigt, die wegen § 130 Strafgesetzbuch angeklagt werden. Er heißt Björn Clemens (42) und hat soeben (im Kyffhäuser-Verlag, Mengerskirchen) den Essayband „Abendbläue“ veröffentlicht.

Wie kommt ein solcher Mann dazu, ausgerechnet Dutschke als den größten und im Grunde einzig „wahren“ Deutschen seit 1945 anzupreisen? Dutschke war ein Mann, der keinen einzigen geraden deutschen Satz zu schreiben in der Lage war und der sich als Politiker dadurch auffällig machte, daß er in heulendem Ulbricht-Ton einige ewig wiederkehrende altmarxistische Phrasen unter heulend zustimmende 68er-Studenten schleuderte. Wie kommt ein „rechter“ deutscher Rechtsanwalt vom Jahrgang ’67 dazu, solchen Schwachsinn zu feiern?

Die Lösung des Rätsels offenbart sich im Untertitel des Clemens-Buches: „Die Typologie der Stunde Null“. Clemens hält sich in der Freizeit, wenn er sich von juristischen Scharfsinnigkeiten erholen will, für einen „Metaphysiker“, und als solcher ist er hier darangegangen, die jüngere Geschichte Deutschlands als „Ausfaltung der Stunde Null“ zu beschreiben. Infolge der Niederlage von 1945 sei Deutschland nicht nur materiell, sondern auch und vor allem geistig total „vernullt“ gewesen, und alles weitere Geschehen hierzulande sei immer nur eine erneute Demonstration dieser Nullität gewesen.

Wer so denkt, hat keine Ahnung vom wahren Leben der Völker. Für diese gibt es, auch nach bittersten Niederlagen, gar keinen totalen Nullpunkt. Für sie geht es – vorausgesetzt, daß man sie nicht Individuum für Individuum auslöscht – immer irgendwie weiter, Man greift auf Ressourcen zurück, die trotz der schrecklichen Zerstörungen übriggeblieben sind, knüpft an Traditionen an, die der Sieger auch beim schlimmsten Willen nicht madig machen kann, delegiert Macht und Kultur an Senioren, die genau wissen, was wirklich passiert ist und wie die Plus- und die Debetkonten auf beiden Seiten aussehen.

Genau das ist in Deutschland passiert, wenn auch nur in Westdeutschland. Trotz der gewaltigen Ausplünderungen, Patenträubereien und erzwungenen Intelligenz-Transfers war Westdeutschland nach zehn, zwölf Jahren die zweitmächtigste Wirtschaftsmacht der Welt. Die Integration der aus den deutschen Ostgebieten und aus der Sowjetzone kommenden riesigen Flüchtlingsströme gelang in bewunderswerter, historisch einmaliger Weise. Die Macht ging an Adenauer, Schumacher. Erhard, Ehlers, Gerstenmaier; in der Kultur blühten Heidegger, Ernst Jünger, Gottfried Benn. Werner Heisenberg.

Solche Gestalten permanent als Nullitäten und Platzhalter des Nichts hinzustellen, wie das bei Clemens geschieht, ist eine Frechheit. Es waren Patrioten, die kaltblütig und umsichtig mit den Folgen der Niederlage umgingen und bei vielen Gelegenheiten ganz öffentlich darüber klagten, wie schwierig es sei, deutsche Interessen unter den Auflagen der Sieger zur Geltung zu bringen. Der Kalte Krieg erleichterte dann groteskerweise ihre Arbeit. Denn die Deutschen wurden existentiell gebraucht, vierzig Jahre lang (und zwar nicht nur im Westen).

Ludwig Erhard konstatierte damals erleichtert: „Wir sind wieder wer.“ Aber dann kamen die 68er und mit ihnen der eigentliche Kulturbruch. Traditionelle Institutionen, nicht nur die Nation, sondern auch Familie, Religion, Universität, Ordnung & Institution überhaupt, wurden nur noch verhöhnt und mit Füßen getreten. Der Pöbel triumphierte, die Dutschkes begannen ihren „Marsch durch die Institutionen“. Sie waren kein spezifisch deutsches Phänomen, doch sie siegten in Deutschland besonders leicht, weil dessen Nachkriegsstrukturen noch weitgehend provisorisch und fragil-angreifbar waren.

Heute nun sind sie überall an der Macht, Straßen heißen nach ihnen, „bei Axel Springer“, wo man laut Björn Clemens einst „den Revolver gegen Dutschke lud“, machen sie sich besonders breit. Doch im Gegensatz zu den „Jahren des absoluten Nullpunkts“ 1945/1955 ist seit ihrer Herrschaft nicht die Spur von Aufbruch zu finden, nur politische Ohnmacht, Haß aufs eigene Volk, Gemeinheit, sexueller (und nicht nur sexueller) Mißbrauch. Viele im Lande spüren, daß zwar nicht Deutschland, aber die Herrschaft der Dutschkisten an einem Nullpunkt angekommen ist und ein gründliches Ausmisten, vielleicht sogar eine richtige Revolution fällig wird.

Wichtig wäre dann, genau aufzupassen, wer da Augias spielen will und daß nicht neue Mini-Robespierres bzw. Mini-Lenins zum Zuge kommen. In dem Buch von Clemens gibt es ein langes Kapitel „Der Revolutionär“, in dem es unter anderem heißt: „Bei aller Radikalität ist der Revolutionär kein Traumtänzer. Er hat seine Überlegenheit schon unter Beweis gestellt. Ausgestattet mit der Munition der Remigrantengelehrten aus der Frankfurter Schule zwang er seit 1968 die alten Ordnungen in die Defensive.“

Und weiter heißt es: Der Revolutionär „erschreckte die Spießer mit der freien Liebe der Kommune, blockierte Kasernen und Zeitungsverlage. Er warf Autos um und zündete Barrikaden an. Heute verrichtet er seine Zersetzungsarbeit als Chefredakteur oder Minister.“

Dazu wäre anzumerken: Solche Revolutionäre braucht das Land gerade nicht. Sie dürfen nie und nimmer Subjekte eines großen Ausmistens werden, höchstens seine Objekte.

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