© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Ideen wider die Entfremdung
Der Minister des Geistes: Zum 175. Todestag des preußischen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt
Claus Richter

Am 3. April, von Berlin kommend die einsame Jungfernheide durchtrabend, trafen der Kronprinz und sein Bruder, der nachmalige Kaiser Wilhelm I., auf Schloß Tegel ein. Sie wollten Abschied nehmen von einem, der einst mitgeholfen hatte, ihr Preußen wie Phönix aus der Asche wiedererstehen zu lassen. Mit diesem Retter, mit Wilhelm von Humboldt, obwohl erst 67 Jahre jung, ging es jetzt zu Ende. Fünf Tage später, am 8. April 1835, bei scheidender Sonne, ist der „Minister des Geistes“ (Hans-Joachim Schoeps) dann hinübergeglitten. Für die Sammler letzter Worte ein unentscheidbarer Fall: entweder mit den Versen Homers und Pindars auf den Lippen oder, den Blick fest gerichtet auf das Porträt seiner 1829 verstorbenen Gattin, mit „Nun adieu“?

Wer dem Humboldt-Mythos huldigt, optiert natürlich für die altgriechischen Rhapsoden, weil alles andere dem preußischen Graekomanen nicht würdig wäre. Den „alten Griechen“ zuliebe hatte der Referendar am Berliner Kammergericht 1791 zunächst die Staatslaufbahn verschmäht und sich in die Nähe des Weimarer Dioskurenpaares verfügt, wo er bald als der „dritte Klassiker“ glänzen und seiner Lebensmaxime leben konnte: „Die Griechen sind uns nicht bloß ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal.“

Ihre Hinterlassenschaft hat er freilich nie in Augenschein genommen. Wie die meisten anderen deutschen Hellas-Schwärmer seiner Generation war Humboldt nie in Griechenland. Ihrer Idealisierung „der Alten“ konnte das nur förderlich sein. Berauscht von subjektiven Antizipationen und durchdrungen von der „Absolutheit“ seiner Werturteile, mutete der finanziell wohlgepolsterte adlige Privatgelehrte, der es sich zeitlebens leisten konnte, sich dem „Drang der Geschäfte“ zu entziehen, seinen Landsleuten zu, solche Obsession zu teilen – und dies seit den 1790ern, kurz nach der Französischen Revolution, im Schatten der anbrechenden Industrialisierung: Daseinsorientierung zu suchen an einer seit 2.500 Jahren versunkenen Kultur.

Daseinsorientierung an einer längst versunkenen Kultur

Eine derartig realitätsfern scheinende Zumutung wäre außerhalb der Literaten- und Gelehrtenzirkel in der deutschen Kleinstaaterei vielleicht auf keinerlei Resonanz gestoßen. Zumal gerade Humboldt zwar viel schrieb, aber wenig zum Abschluß brachte und noch weniger veröffentlichte.

Die volkserzieherische Gelegenheit, seinen Griechentraum in ein Curriculum zu tranformieren und für ein Jahrhundert zum Schüler-Alptraum werden zu lassen, bekam Humboldt 1809, als die preußischen Reformer ihn an die Spitze der Kultusverwaltung beriefen. Wie er selbst bekannte, hätte niemand dafür ungeeigneter sein können. Der Sproß eines märkischen Offiziers und Landedelmanns besuchte nie eine Schule, genoß mit Bruder Alexander den Unterricht von Hauslehrern. Mit der mächtig anschwellenden nachaufklärerischen Pädagogik war diese „durchaus unpädagogische Natur“, der „krasse Individualist“ (Eduard Spranger) so unvertraut wie mit den preußischen Schul- und Universitätsverhältnissen, die er nicht einmal vom Hörensagen kannte. Überdies: Seit 1797, als er aufbrach, um in Paris „selbstgewählten Studien zu leben“, hielt er sich im Ausland auf, zuletzt seit 1802 als Gesandter seines königlichen Herrn beim Päpstlichen Stuhl in Rom.

Trotzdem, und ungeachtet einer nur 16 Monate währenden Amtsdauer, ist der Geheime Staatsrat und Leiter der Sektion des Kultus und des öffentlichen Unterrichts im preußischen Innenministerium als der bis heute bedeutendste Kopf in der deutschen Bildungsgeschichte anzusehen. Zum einen war es ihm beschieden, in einer historischen Minute die weitestreichenden, hier und da bereits angestoßenen Reformen in ein schlüssiges Konzept zu gießen und zu institutionalisieren. Humboldt und seine Gehilfen Johann Wilhelm Süvern und Heinrich Ludwig Nicolovius – die wie er ein gewaltiges Pensum in einer Art Arbeitsrausch bewältigten – sind die  Schöpfer des humanistischen Gymnasiums, des geregelten „höheren“ Unterrichts, des Stundenplans, des Abiturs, des Elementarunterrichts nach den pädagogischen Vorstellungen Pestalozzis, jedoch auch des staatlichen Dirigismus im deutschen Erziehungswesen.

Und der Sektionschef  „gründete“ zwar nicht die im Herbst 2010 ihren 200. Geburtstag feiernden Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, aber er „schuf“ sie, organisierte Mittel wie Ausstattung, sorgte für eine glänzende erste Besetzung der Lehrstühle. Nach Berliner Reformmuster sind wenig später auch die Universitäten in Bonn und Breslau erstanden.

Vor allem aber war es der „Geist“, der mindestens bis 1968 lebendig blieb und der Humboldt Wirkungsmacht vor allem im deutschen Universitätssystem verschaffte. So pädagogisch „ungeeignet“ der Diplomat 1809 für den Posten des Kultuschefs gewesen sein mochte: Im Vergleich mit alternativen Kandidaten verfügte er über eine seinerzeit moderne Vorstellung von „Bildung“, über ein konzises „Menschenbild“ als Erziehungsnorm und Maßstab für die Lehrenden wie Lernenden.

Seit Bologna ist Humboldt endgültig tot

Diese „Theorie der Bildung“, nicht zufällig parallel zu literarisch-philologischen Altertumsstudien entworfen, sah sich wegen ihrer „vagen Begrifflichkeit“ (Clemens Menze), ihrer „mystischen Unbestimmtheit“ (Spranger) beharrlichen Angriffen ausgesetzt, lange bevor das „System Humboldt“ nach 1968 zur Disposition stand. Tatsächlich raffte der philosophische Dilettant von Platon bis Schelling in kühnem Schwung eklektisch die Materialien für den eigenen Bau zusammen, ohne sich der Anstrengung der Begriffs auszusetzen und für sich und seine Leser zu klären, was man unter dem zentralen Axiom denn zu verstehen habe, dem zufolge Bildung erwachse aus dem ins Unendliche fortzusetzenden Versuch, „in der Individualität das Ideal zu erreichen“, oder nach dem Vorbild der Griechen die eigene und vielleicht auch die nationale Existenz zur  „Totalität“ zu steigern.

Nur soviel – aber für die Reform von 1809/10 erwies es sich als ausreichend praxistauglich – ist Humboldts „vager“ Bildungstheorie und ihrer vom Griechen-Enthusiasmus befeuerten Jongliererei mit Individualität, Totalität, Ideen und Idealen zu entnehmen, daß sie als polemischer Text gelesen höchst präzise Auskunft darüber erteilt, wie Gymnasiasten und Studenten nicht gebildet werden sollen: nämlich nicht frühzeitig nach den Anforderungen des Berufs, nicht abgerichtet auf den Erwerb, nicht eingezwängt in die sich entfaltende Welt der „großen Industrie“ – wie Karl Marx das nannte, den Ernst Nolte zutreffend als Erben des Deutschen Idealismus in der Tradition von Schiller und Humboldt verstanden hat. 

Nicht von ungefähr taucht in den frühen Schriften Humboldts, Schillers und Fichtes der Gegenbegriff „Entfremdung“ auf. Nicht von ungefähr auch tritt der Autor Humboldt mit einem Auszug aus seinem Essay über „Grenzen der Wirksamkeit des Staates“ erstmals vors Publikum, der, 1851 vollständig gedruckt, als Magna Charta des deutschen Liberalismus gilt. Dort tritt er nicht für die Freiheit des Individuums ein, damit es in epikuräischer Schrankenlosigkeit nach Lust und Laune „essen, trinken, huren“ (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf) könne, sondern damit es seine „Kraft“ entfalte, um sich nach „Ideen“ zu bilden, die allein ein unentfremdetes Dasein versprechen.

Nachdem in den letzten vierzig Jahren die solchen Bildungsprinzipien gehorchenden „höheren wissenschaftlichen Anstalten“ zugrunde reformiert worden sind und im Zeichen des von „Bologna“  diktierten Effizienzdenkens und maximalster Entfremdungsvorgaben ihren Erstickungstod sterben, ist auch Wilhelm von Humboldt wirklich tot.

Wilhelm von Humboldt: Das große Lesebuch, hrsg. von Jürgen Trabant, Fischer Taschenbuchverlag, broschiert, 427 Seiten, 13,50 Euro

Foto: Wilhelm von Humboldt (2.v.l.) mit seinem Bruder Alexander (2.v.r.) sowie den Dichtern Johann Wolfgang von Goethe (r.) und Friedrich Schiller (l.): In Weimar glänzte er als der „dritte Klassiker“  

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