© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

CD: Chopin
Umwege
Jens Knorr

Der neue französische Existentialismus hat seine Verkündiger nicht unter den Chansonniers, sondern unter den klassisch ausgebildeten Pianisten gefunden.

Alexandre Tharauds erstes Album nach seinem Wechsel von Harmonia Mundi zu Virgin Classics, „Journal Intime“(Virgin Classics 50999 6855652 5), enthält keine ganz gängigen Titel, keinen der Walzer und keines der Préludes, die er bereits eingespielt hat, keine der Polonaisen, nicht Trauermarsch-Sonate, Revolutions-Étude oder gar Grande étude op. 11 Nr. 3, die „In mir klingt ein Lied“-Etüde. Es sei gewissermaßen ein Album seiner persönlichen Erinnerungen, das Klavier der geheime Garten seiner Jugend gewesen, dem er sich auf dem Weg über Chopin anvertraut habe, redet der Künstler, der doch vielmehr bilden sollte, in – von der Kritik zu Recht als „verbaler Kitsch“ apostrophierten – Texten über sein „Journal Intime“: Von dem Nocturne Es-Dur op. 9 Nr. 2 und den Ecossaises op. 72 Nr. 3 habe sich das Kind einlullen, die Contredanse Ges-Dur und die Fantaisie-Impromptu cis:Moll op. 66 postum seine Klavierlehrerin Carmen Taccon-Devenat ihn entdecken lassen. Die Fantaisie-Impromptu sei sein Lieblingsstück während der Konservatoriumszeit, die zweite Ballade F-Dur op. 38 sein Stück für die Aufnahmeprüfung gewesen, während ihm das Spiel der ersten in g-Moll op. 23 zeit seines Studiums hartnäckig verweigert worden sei. Das Largo c-Moll habe er zuerst in einer Orgelbearbeitung auf der Beerdigung eines Angehörigen gehört. Dieses Stück erinnere ihn an diesen, jenes an jenen Anlaß. Doch ist all das wichtig zu wissen, um Tharauds Spiel verstehen zu können?

Nicht über den Umweg durch die geheimen Gärten fremder Kindheit und Jugend führt der Weg zurück in die unseren, sondern auf dem direktem über Tharauds Chopin, und zwar über das, was er an subjektivem Erleben im Spiel der Noten zu gültigen Ausdruckscharakteren zu objektivieren vermochte. Sein Chopin ist kultiviert ohne Salonmief, weltläufig, ohne aufzutrumpfen, intim, aber diskret, noch in der starken Eruption beherrscht, geordnet noch in der hereinbrechenden Katastrophe, die singende Melodiestimme beredt, nie geschwätzig. Und hier dürfte ein Hinweis auf den Unterricht bei Taccon-Devenat durchaus weiterhelfen, die Tharaud einen „sprechenden“ Chopin abforderte und im Verein mit dem Schüler jeder Note Wörter, Silben hinzufügte.

Tharaud spielt Chopin so, daß man Chopin versteht. Er verschmäht auch nicht die repräsentative Geste, die ihm sein Instrument, ein Steinway, ermöglicht; Chopin mag sie weniger gelegen haben, seiner Musik wohnt sie durchaus inne. Doch wirkt sie, wie vor leerem Saal und keinem Publikum ausgeführt, verlorener denn je.

Stück um Stück ersteht musikalisch die Gestalt des polnischen Emigranten Fryderyk Szopen aus französischer Außen- und Innensicht, vertraut und beunruhigend fremd, daheim und nicht daheim, den Körper in Frankreich, das Herz in Polen. So ersteht musikalisch die Gestalt des Komponisten, in strenge Exerzitien der Form verkapselt, an deren Auflösung er unerbittlich arbeitet, den Blick unverwandt auf sich selbst gerichtet. Und so erscheint hinter der Gestalt des Komponisten die seines Interpreten. Wessen geheime Gärten sind es, unter deren Blumen Alexandre Tharaud Chopins Kanonen eingesenkt hat?

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