© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Intellektuelle Unterforderung
Eine Aufsatzsammlung über die Kieler Universität im Dritten Reich mit Aufarbeitungsanspruch
Fabian Wapnitz

An Darstellt inzwischen kein Mangel. Auch die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat auf diesem Felde in den letzten zwanzig Jahren vielleicht nicht das bewältigungspolitisch geforderte Maximum erreicht, aber unterhalb der so monumentalen wie frühen (1991) Hamburger „Aufarbeitung“ und dem jüngsten, rein quantitativ beeindruckenden Münchner Zweibänder (JF 47/09) rangiert man an der Förde auf einem ehrenwerten Mittelplatz.

Auf den ersten Blick, der auf stattliche 400 Seiten fällt, scheint die vom Kieler Neuhistoriker Christoph Cornelißen und seinem Assistenten Carsten Mish edierte, im letzten Herbst veröffentlichte Aufsatzsammlung über „Die Universität Kiel im Nationalsozialismus“ das Placement also zu verbessern. Aber leider nur auf den ersten Blick. Das erkennt auch der wissenschaftshistorische Laie schnell, wenn er die „wilde, verwegene Jagd“ durch die Fakultätsgeschichten der Theologen, Mediziner und Juristen zur Kenntnis genommen hat. Für die „Theologische Fakultät im NS-Staat“ sind kümmerliche zwanzig Seiten reserviert. Der Verfasser repetiert die hinlänglich vertraute, die Fakultät spaltende Konstellation, in der professorale Anhänger der Bekennenden Kirche den Programmatikern der Deutschen Christen – oder wie im Kieler Fall Hermann Mandels, einer extrem „völkisch-rassistischen“ Reduktion des Christentums – gegenüberstanden.

Nicht innovativer und instruktiver ist der Beitrag des Kieler Zivilrechtlers Rolf Meyer-Pritzl über die nach 1918 mit prodemokratischen Gelehrten wie Walther Schücking, Hermann Kantorowicz oder Gustav Radbruch fast lückenlos besetzte, nach 1933 folglich komplett zur „NS-Stoßtruppfakultät“ umgebaute Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät. Der Verfasser traktiert hier nicht nur ausgeleierte Stereotypen, er offenbart auch seine Ahnungslosigkeit schon in Etikettierungen, die etwa aus Carl Schmitt den „führenden nationalkonservativ-völkischen Rechtswissenschaftler“ schnitzen. War Schmitt wirklich „nationalkonservativ“, oder eher „jungkonservativ“ oder womöglich keins von beiden  und schon gar nicht „völkisch“?

Die Medizinische Fakultät erfährt eine ähnlich kursorisch-dilettantische Nichtbeachtung durch Brigitte Lohff, Professorin für Geschichte der Medizin in Hannover. Lohff stößt aber immerhin zu prinzipiellen Fragestellungen vor – die ins 19. Jahrhundert zurückweisen, wenn sie nach Erklärungen für den „Aufstieg der Ärzte“ (Claudia Huerkamp) zu sozialpolitischen Wunderheilern am „Volkskörper“ sucht. Zupackend spannt Lohff da den Bogen vom preußisch-pommerschen Titanen Rudolf Virchow (1821–1902) zu den Dachauer Menschenversuchen des Kieler Physiologen Ernst Holzlöhner. Zugegeben: Das „Normdenken“ der Medizin entwickelte sich zu Virchows Zeiten – ebenso das Gefühl für die „gesellschaftliche Verantwortung der Ärzte“. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt, um „bevölkerungsbezogene Gesundheitsfragen“ zu erörtern und sich sozialreformerisch „korrigierend“, zuletzt eben „rassenhygienisch“ und „erbgesundheitlich“ zu engagieren. Nur verschweigt Lohff, daß Virchow, ein alter „1848er“, wie kein anderer Mediziner seiner Zeit als Arzt und Parlamentarier der Einpeitscher des linksliberalen „Fortschritts“ war. Die medizinischen Sozialutopien des Nationalsozialismus stünden demnach in der Kontinuität des linken social engineering?

Mit dererlei staunender Ratlosigkeit sind aber noch nicht die wahren Untiefen dieses Bandes ausgelotet. Diesen nähert man sich erst mit Hans-Christian Petersens sehr schlampigem Beitrag über das Kieler Institut für Weltwirtschaft oder Birgit Aschmanns Erkundungen zur Germanistik an der CAU nach 1933. Die Autorin ist eine Schülerin von Cornelißens Amtsvorgänger Michael Salewski, einem Verfechter der Zeitgeschichte als „politischer Wissenschaft“, der als Emeritus und Kommentator der Zeitläufte regelmäßig der Schleswig-Holsteinischen Landeszeitung und der FAZ zuarbeitet.

Unter solchen zu intellektueller Unterforderung einladenden Auspizien kann es nur in die Hose gehen, wenn Aschmann auf den 1942 an der Ostfront gefallenen Clemens Lugowski zu sprechen kommt. Der figuriere, so wundert sich die konsternierte Historikerin, noch 2006 ob seiner magistralen, seit den 1970ern von Suhrkamp profitabel vermarkteten Göttinger Dissertation „Die Form der Individualität im Roman“ (1932) als „Klassiker der strukturgeschichtlichten Erzählanalyse“. Dabei hat Aschmann ihn beratungsresistent als „Nazi“ eingekastelt. Was nun? Hätte ein Blick auf Lugowskis Doktorvater Rudolf Unger (1876–1942) nicht vielleicht geholfen: auf diesen Protagonisten der von Wilhelm Dilthey (1833–1911) etablierten „geistesgeschichtlichen“ Richtung der Germanistik, den Verfasser einer heute noch unübertroffenen Monographie (1911) über den Königsberger „Irrationalisten“, Judenfeind, Gegenaufklärer und militanten Lutheraner Johann Georg Hamann (1730–1788)?

Aber Petersen, Lohff und Aschmann oder den dem Plagiat benachbarten Aufsatz über die Kieler Philosophie von Michael Sellhof – das darf man gerade noch durchwinken. Immerhin bügelt Sellhof den intellektuellen Absturz ein wenig aus, den die Darstellung der Philosophie an der Förde im letzten Sammelband zur Kieler Universitätsgeschichte (2007) erlebte. Dort hat der seit Urzeiten philosophisch wie historisch gleich glücklos dilettierende Jendris Alwast volkspädagogisch glatt gehobelte Inhaltsreferate hybrid-hegelianisch komisch als „Anstrengung des Begriffs“ verkaufen wollen. Diesen Einzug des Überbrettl in die Philosophiegeschichte läßt Sellhof immerhin halbwegs souverän hinter sich.

 Die wirklich inakzeptable Zone erreicht der Leser erst mit dem Beitrag des Herausgebers selbst. Cornelißen nimmt sich die Kieler Historiker zwischen 1933 und 1945 zur Brust. Das seien Überzeugungstäter oder Opportunisten gewesen. In Sachen Opportunismus ist Cornelißen freilich eine Autorität. Denn in der „Zunft“ ist es sauer aufgestoßen, daß seine Kieler Berufung 2003 so wirkte, als hätten sein Lehrer Wolfgang J. Mommsen und Salewski sie zu vorgerückter Stunde beim Rotspon abgekaspert: quasi als Belohnung für Cornelißens zeitgeistkonforme Biographie Gerhard Ritters, die der Badischen Zeitung als Steilvorlage diente, um ihren Freiburger Universitätspreis nicht mehr nach diesem wahrhaft bedeutenden, dem „20. Juli“ nahestehenden, aber eben leider „nationalkonservativen“ Historiker benennen zu wollen (JF 24/08). 

Was Cornelißen, der Profiteur akademischer Günstlingswirtschaft, allein sprachlich offeriert („die moralische Entgrenzung ... blieb nicht begrenzt“), läuft auf chinesische Wasserfolter hinaus. Michael Burleighs Arbeit über die deutsche „Ostforschung“ (1988) nennt er ahnungslos „bahnbrechend“. Die maßgebende Rezension Gotthold Rhodes über diese peinliche Wiederaufbereitung von DDR-Agitprop aus angelsächsischer Feder scheint er nicht zu kennen – ebensowenig wie die aus Archivquellen geschöpfte Pionierstudie (Die Heimat. Zeitschrift für Natur- und Landeskunde von Schleswig-Holstein und Hamburg, 11/12-1998) über den von ihm scheinbar „entlarvten“ Kieler Landeshistoriker Alexander Scharff. Über die „nationalsozialistische Ausrichtung“ des zum Kreis Stefan Georges zählenden Carl Petersen besteht für Cornelißen „keinerlei Zweifel“. Und wie erklärt sich dann die faktische Zwangsversetzung Petersens nach Greifswald, im Zusammenhang der „Säuberung“ der CAU von den „Georginen“?

Die meisten Beiträger dieses Bandes sind zwischen 1958 und 1979 geboren. Diese erste authentisch bundesdeutsche Historikergeneration repräsentiert den gnadenlosen Triumph moralisierender „Wändekritzler“ (J. M. R. Lenz) über die Wissenschaft. Der geneigte Leser sollte daher eine Flasche Martell in Reichweite stellen. Nur so vermag er die Erzeugnisse der Cornelißen&Co. gemäß einer Maxime des Künstlers und Quartalstrinkers Horst Janssen (1929–1995) zu konsumieren und zu ertragen: „Ich saufe mich auf euer Niveau runter.“   

Christoph Cornelißen, Carsten Mish (Hrsg.):Wissenschaft an der Grenze. Die Universität Kiel im Nationalsozialismus. Klartext Verlag, Essen 2009, gebunden, 419 Seiten, Abbildungen, 19,95 Euro

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