© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

„Dresden dürfte das Gewissen heute noch belasten“
Das „Morale Bombing“ auf deutsche Städte war nach dem Kriegsvölkerrecht verbrecherisch: Das gilt auch für die Bombardierung Potsdams vor 65 Jahren
Björn Schumacher

Der letzte britische Großangriff am 14. April 1945 galt Potsdam. Taggenau 200 Jahre nach der Grundsteinlegung von Schloß Sanssouci und 100 Jahre nach dem Baubeginn der Friedenskirche starben nach städtischen Angaben 3.578 Menschen. Obwohl vor allem der Bahnhof zerstört werden sollte (Hans-Werner Mihan), dürfte den Briten die Vernichtung preußischer Bedeutungsarchitektur willkommen gewesen sein: „Die Baugestalt war ein Erzieher, der stumm belehrte über Schönheit und Form, Maß und Zweck. Auch die Bombe war Erzieher und richtete über Macht und Ohnmacht“ (Jörg Friedrich).Der traditionsfeindliche „Erziehungs“-auftrag der Potsdamer Bomben könnte sich obendrein im Streit um den Wiederaufbau von Stadtschloß und Garnisonkirche spiegeln.

Ähnlich spannende Kontroversen erzeugt die ethische und juristische Frage, ob unterschiedslose Bombardierungen der Jahre 1940 ff. Kriegsverbrechen waren. Während die moralische Verwerflichkeit von maßgebenden Philosophen wie John Rawls, Anthony Grayling oder Lothar Fritze bejaht wird, prallen im völkerrechtlichen Diskurs markante Gegensätze aufeinander.

Harris hielt Bombardierung für „vergleichsweise human“

Einige Naturrechtler bewerten unterschiedslose Flächenangriffe auf Zivilisten und Militärziele als Verstoß gegen ungeschriebenes Luftkriegsgewohnheitsrecht. Erwähnt seien James M. Spaight, bis 1937 Staatssekretär im britischen Luftfahrtministerium, sowie Hersch Lauterpacht (1897–1960), renommierter Cambridge-Professor und Haager Richter mit jüdisch-galizischen Wurzeln. Der Luftwaffenoffizier und Weltkriegsflieger Eberhard Spetzler schrieb das fast vergessene Standardwerk zum ungeschriebenen Kriegsvölkerrecht („Luftkrieg und Menschlichkeit“, 1956). Laut Spetzler wird ein durch multilaterale Regierungserklärungen entstandenes oder bestätigtes Völkergewohnheitsrecht nicht durch zeitweilige Rechtsverstöße beseitigt. Zudem seien die USA und Großbritannien nie von ihrer offiziellen Ablehnung der unterschiedslosen Flächenangriffe abgerückt und hätten deshalb effiziente Verschleierungstaktiken entwickelt.

Solchen Thesen widersprach Bomber-Command-Chef Arthur Harris: „In diesem Fall des Einsatzes der Luftstreitkräfte gibt es überhaupt kein Völkerrecht. (...) Trotz allem, was in Hamburg geschah, erwies sich das Flächenbombardement als vergleichsweise humane Methode.“ Auf gleicher Linie lag Telford Taylor, stellvertretender US-Chefankläger in Nürnberg, der aber unter dem Schock des Vietnamkriegs umzudenken begann: „Dresden dürfte das Gewissen dieser Mächte heute noch belasten. Im Falle Hiroshimas kann über Für und Wider gestritten werden; für Nagasaki ist mir noch keine plausible Rechtfertigung zu Ohren gekommen.“

Jörg Friedrich hält Taylor in der Festschrift „Staatsverbrechen vor Gericht“ (Amsterdam 2003) unscharfe Deutungen der Begriffe militärisches Ziel, Notwendigkeit und Proporz vor: „Taylors Vorschlag, welcher die Einäscherung von 3.400 Wuppertalern zuläßt, weil am Ort Fallschirmseide hergestellt wird, und 6.000 Heilbronner zu töten verbietet, weil sie Wein vermarkten, (...) ist nicht als Kriegsartikel formulierbar.“

Neben inhaltlicher Klarheit zählt Friedrich die realitätsprägende Kraft zu den Bedingungen geltenden Völkerrechts. Daran fehle es dem ungeschriebenen Luftkriegsrecht der Jahre nach 1939, das Terrorangriffe weder verhindert noch für ihre spätere Ahndung durch ein Dresden-Tribunal gesorgt habe. Kriegsverbrechen im juristischen Sinne sieht er hier konsequenterweise nicht: „Durch den Weltkrieg, seinen Verlauf, Ausgang und Gerichtsepilog ist eine Rechtswirklichkeit hergestellt worden. Die Flächenvernichtungsbombardements deutscher Städte gelten historisch weder im Ereignis noch in der Methode als ein Unrecht.“

Der Autor dieser Zeilen hat Flächenangriffe des Zweiten Weltkriegs nicht nach ungeschriebenem Völkergewohnheits-, sondern nach geschriebenem Völkervertragsrecht geprüft: Artikel 23 b und g, 25 und 27 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907. Zur Anwendung kommt das reiche Arsenal juristischer Methodenlehre. Humanitäre HLKO-Normen werden über ihren Wortlaut hinaus nach Entstehungsgeschichte, systematischem Standort sowie ihrem der philosophischen Aufklärung entstammenden Sinn und Zweck ausgelegt. Eine nachträgliche Deutung unterschiedsloser Bombardements als Kriegsverbrechen rückt damit in Reichweite.

Denkbar ist ferner, moralisch nicht akzeptable „Regelungslücken“ des in-ternationalen Vertragsrechts durch rückwirkende Statuten zu schließen. Diesen Weg gingen die Alliierten bei den Kriegsverbrecherprozessen von 1946. Welchem Lösungsvorschlag man auch folgt – immer stellt sich die Frage, in welchem Umfang der Begriff des Rechts im allgemeinen und des Völkerrechts im besonderen von den Elementen Faktizität (Rechtswirklichkeit) und Moralität (Rechtsvernünftigkeit) mitgestaltet wird.

 

Dr. Björn Schumacher ist Jurist und Autor des richtungsweisenden Buches „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. ‘Morale Bombing’ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur“ (Ares Verlag, Graz 2008).

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