© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/10 09. April 2010

Deutschland als Schicksal
Nicht in Anachronismen schwelgen
von  Frank Lisson

Haben Menschen oder gar ganze Völker ein „Schicksal“? Unterliegen sie Gesetzmäßigkeiten, denen sie sich nicht entziehen können? Neben dem zumeist pathetischen Blick auf die historische „Schicksalsgemeinschaft“ von Menschen mit gleichen Erfahrungen oder dem in die zu erwartende Zukunft besteht noch ein ganz unmittelbarer Bezug zwischen Fatum und Leben: Das „Schicksal“ des Menschen ist die Wirklichkeit, die ihn umgibt. Denn diese Wirklichkeit sagt ihm, unter welchen Bedingungen er lebt, und ebendiese bestimmen sein Dasein mehr als alle metaphysischen Verweise auf vergangene Kollektiverfahrungen. Das gleiche gilt für Nationen oder Gesellschaften.

Die Bedingungen des Lebens sorgen für dessen Verlauf und Qualität. Der einzelne kann nie frei darüber entscheiden, was er sein und wie er leben will: Ob er lieber mit dem Auto zur Arbeit fahren oder mit dem Pferd in den Wald reiten soll, ob er Wegelagerer, Hofmeister oder Informatiker, Jakobiner, Sozialdemokrat oder Gotteskrieger wird. All das hat sich nie jemand wirklich aussuchen können, denn eine solche Entscheidung setzt einerseits das Vorhandensein der Möglichkeit und ferner deren Realisierbarkeit voraus. Was es noch nicht oder nicht mehr gibt, steht dem Menschen als Lebensentwurf auch nicht zur Verfügung. Kurz: Wir können nur das werden oder sein, was uns die jeweilige Wirklichkeit an Daseinsformen anbietet. Genauso wenig obliegt es einer Nation oder Gesellschaft, frei zu entscheiden, ob oder wann sie ein christliches Kaiserreich, eine Räterepublik oder eine postindustrielle Wirtschaftsdemokratie sein will.

Wenn man von einer „deutschen Volkheit“ und „Schicksalsgemeinschaft“ spricht, wie im Aufsatz von Larsen Kempf (JF 13/10) geschehen, muß man ganz nüchtern und wertfrei nach den Inhalten solcher Begriffe fragen. So entsteht etwa eine „Schicksalsgemeinschaft“ erst durch die Teilhabe vieler an einem gemeinsam Erlebten und ist folglich nicht von vornherein gegeben. Entsprechend unterschiedlich ist die Bindungskraft, die von einem solchen Kollektiverlebnis ausgeht: Die „Schicksalsgemeinschaft“ der Deutschen im Dreißigjährigen Krieg war eine völlig andere als die von 1918. Und das Bewußtsein eines gemeinsamen „Volkstums“ hat es vor dessen Begriffsbildung durch Friedrich Ludwig Jahn im frühen 19. Jahrhundert geschichtlich unter Deutschen ebenfalls kaum gegeben.

Der Hinweis auf solche Tatsachen wird vor allem dann relevant, wenn sich bestimmte Denk- und Gefühlsgewohnheiten nicht mehr von selbst verstehen, die Wörter wie „Volkheit“ oder „Schicksalsgemeinschaft“ einst noch auslösten. Wo jedoch der Bezug zur Empirie außer acht gelassen wird, bleiben solche Begriffe blaß und hohl. Der Gedanke verschwindet hinter dem Wohlgefallen eigener Wunschbilder, und das Problem wird esoterisch, da es nur noch demjenigen zugänglich ist, der die gleichen Ausblendungen vornimmt. Folge: Man flieht in das Bild, das man sich von den Dingen gemalt hat, indem man den Blick auf die Dinge selbst vermeidet.

Das „Schicksal“ des einzelnen wie das eines Volkes liegt aber in dessen gelebter Wirklichkeit. Und Wirklichkeit besteht in dem, was tatsächlich vorhanden ist, das heißt, wovon Wirkung ausgeht. Es hat daher keinen Sinn, an die Kraft oder Bedeutung ehemals relevanter Mythen („Hermannschlacht“, „Schicksalsstrom Rhein“, siehe Kempf, JF 13/10) zu gemahnen, wenn diese nicht mehr wirksamer Bestandteil unserer heutigen Wirklichkeit sind.

Denn Wirklichkeiten wechseln. Die Wirklichkeit des heutigen Deutschland ist naturgemäß eine ganz andere als die des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts, und die damalige war wiederum eine andere als die um 1300 oder um 1700. Warum wird das so gern übersehen? Warum klammern sich so viele Konservative verbissen an den Staats- und Volksbegriff einer Periode, die, verglichen mit anderen Perioden, von nur relativ geringer Dauer war? Weil die Phänomene „Staat“ und „Nation“ in jener Zeit ihre unbestreitbar höchste Blüte und somit gewissermaßen ihre „Selbstverwirklichung“ durchlebten.

Aber das „Schicksal“ von Menschen und ihren Organisationen heißt nun einmal Werden und Vergehen. Naiv, sich dagegen zu sträuben, aber menschlich. Dennoch verbaut man sich die Möglichkeit, an der bestehenden Wirklichkeit konstruktiv mitzuwirken, wenn man nur eine vergangene gelten läßt und es allein auf deren Rekonstruktion abgesehen hat. Wer die Augen vor dem Wesen der Geschichte verschließt, bleibt auch blind für das eigene „Schicksal“.

Wirklichkeit besteht in dem, was tatsächlich vorhanden ist, das heißt, wovon Wirkung ausgeht. Es hat daher keinen Sinn, an die Kraft ehemals relevanter Mythen zu appellieren, wenn diese nicht mehr wirksamer Bestandteil unserer heutigen Wirklichkeit sind.

Das Schwelgen in Anachronismen ist wie Traumfabrikkino für die Seele: Es macht Spaß, und man fühlt sich wohl und groß dabei; es verstellt aber den Blick auf die Tatsachen. Konservatives Denken marginalisiert sich zunehmend, wenn es die weltgeschichtlichen Entwicklungen aus Furcht vor schmerzhaften Einsichten kurzerhand ignoriert.

Allerdings hat ein solches Verhalten in Deutschland eine lange Tradition. Und es gehört wesentlich zum „Schicksal“ dieses Landes, in Krisenzeiten häufig auf das Einschreiten einer übergeordneten Kraft, auf eine Art „Deus ex machina“ vertraut zu haben. Seit die Deutschen sich überhaupt als Nation begriffen, wurde Politik oft als etwas Fatalistisches empfunden. Vermutlich resultierte diese Haltung aus der politischen Schwäche, die der Nationsbildung vorausging: Wer selbst nicht oder nur kaum politisch handlungsfähig ist, neigt dazu, dem „Schicksal“ eine höhere Bedeutung beizumessen. Alles, was geschieht, liegt dann in der Hand höherer Mächte oder in der Natur der Dinge und ihren Gesetzmäßigkeiten. Dagegen aufzubegehren, ist nicht Sache des Volkes, sondern allein das Amt „großer Männer“.

Nicht zufällig stand der Geniekult in Deutschland traditionell höher im Kurs als anderswo und genoß immer dann größtes Ansehen und weiteste Verbreitung, wenn es um die politische Lage der Nation am schlechtesten bestellt war: in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und dann wieder in den zwanziger, dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Genieästhetik war das Produkt bürgerlicher Ohnmacht, und der Schicksalsglaube wiederum das Ergebnis jenes Vertrauens auf die wundersame Tatkraft des Genies.

Es spricht eine gewisse Bequemlichkeit, Naivität und Scheu aus dem Kult um den „großen einzelnen“, der in der maßlosen (deutschen) Verehrung Napoleons seinen Anfang nahm. Damit begann die Apotheose des handelnden, rücksichtslosen Machtmenschen, dessen Taten über das „Schicksal“ der Nationen entschieden. Während man auf den „Retter“ wartete, mußte man selbst nicht politisch verantwortlich werden. Irgendwann würde er kommen, der große Held, das Volk von alter Schmach befreien und die Nation erneuern. Das deutsche Volk sei von allen Völkern am wenigsten bereit und geeignet, sein „Schicksal“ selber in die Hand zu nehmen, sondern es wolle gehorchen und seiner hierarchisch gegliederten Führung vertrauen; so die fast einhellige Meinung besonders im deutschen Bildungsbürgertum des 19./20. Jahrhunderts, dessen Stimmen von Goethe über Thomas Mann bis Konrad Adenauer reichen. Spätestens seit dem Deutschen Idealismus hatte sich diejenige Interpretation durchgesetzt, wonach die „Freiheit“ des Deutschen vor allem in dessen „Pflicht-erfüllung“ liege. Und der „große einzelne“, die mächtige Individualität des „politischen Genies“ habe immer wieder neu zu bestimmen, worin diese Pflicht bestehe.

1840 hielt Thomas Carlyle in London seine berühmten Vorlesungen über „Helden, Heldenverehrung und das Heldenthümliche in der Geschichte“, die vom deutschen Publikum begeistert aufgenommen wurden und ihre Wirkung nicht verfehlten. Herausragende und einst vielgelesene Historiker wie Jacob Burckhardt oder Eduard Meyer interpretierten den Lauf der Dinge ähnlich. Sie haben bedeutenden Anteil daran, daß Geschichte in Deutschland lange als Willensausdruck großer Individuen verstanden wurde. Auch Nietzsche ließ sich davon beeindrucken und popularisierte seinerseits die Stellung des „großen einzelnen“ wie kaum ein anderer Denker im 19. und 20. Jahrhundert. Ebenjenes blinde Vertrauen in die Leistung der von der „Vorsehung“ geschickten „Führer“ hat nicht zuletzt während der beiden Weltkriege den fatalen Wunderglauben genährt, politisches oder militärisches „Genie“ setze sich gegen jede materielle Übermacht durch.

Alexander, Caesar, Napoleon, Friedrich der Große und Bismarck; das waren neben anderen die „übermenschlichen Helden“, die gezeigt haben sollten, wie sehr „große einzelne“ in der Lage seien, das „Schicksal“ einer Nation zu wenden. Doch sind es wirklich die „großen Männer“, die „Geschichte“ schreiben und von deren Erscheinen oder Ausbleiben das „Schicksal“ einer Nation abhängt? Machen die „großen einzelnen“ die Geschichte, oder macht nicht eher die Geschichte die „großen einzelnen“? Man muß immer fragen: Was treibt die „Großen“ eigentlich an, wenn sie in die „Geschichte“ eingehen? Ein abstrakter, persönlicher Wille? Oder der Sinn für das Mögliche im Wirklichen, der ihnen die Richtung weist? Ist Helmut Kohl „Kanzler der Einheit“ geworden, weil er die Einheit „erreicht“ hat, oder hat die Einheit nicht vielmehr ihn „erreicht“, als er Kanzler war?

Handlungsspielraum besteht nur innerhalb der vorhandenen Bedingungen. Dieser Spielraum muß natürlich genutzt werden. Zugleich ist es ratsam, sich auf eine gewisse „Liebe zum Schicksal“ einzulassen, um nicht Opfer lähmenden Verdrusses zu werden.

Zu welch verhängnisvollen Folgen die Überschätzung der Bedeutung des Individuums führen kann, zeigte in der Antike die Ermordung Caesars. Wenn dieser geniale Staatsmann, Heerführer, Schriftsteller falle, so glaubten die Verschwörer, lasse sich die Republik problemlos wiederherstellen. Doch statt der Republik bescherte die Tat den Römern einen zwölfjährigen Bürgerkrieg. An der Lage änderte das nichts. Die Zeit der Republik war vorbei, und sie war nicht durch Caesar beseitigt worden, sondern durch die Macht der Verhältnisse.

Das gleiche gilt für das mittelalterliche, christlich beherrschte Europa, für die „herrlichen Zeiten“ des zweiten deutschen Kaiserreichs, für den „real existierenden Sozialismus“ – es läßt sich sowenig ein „Schuldiger“ für den Niedergang all dieser Gebilde finden, wie es einem „großen Individuum“ gelungen wäre, sie vor ihrem „Schicksal“ zu bewahren.

Was also ist das „Schicksal“ in der Geschichte? Doch eine blind waltende Kraft, der sich niemand, weder der Staat noch das Individuum, entziehen kann? Oder ist alles, was geschieht, das Ergebnis kausaler Handlungen, und damit rational steuerbares Menschenwerk? Solche Fragen beschäftigten die Denker des klassischen Altertums wie die des Abendlandes sehr, während heute kaum noch jemand sie stellt. Viele philosophische oder geschichtliche Wörterbücher unserer Tage enthalten nicht einmal mehr den Begriff „Schicksal“. Das liegt natürlich an unserer „modernen“ Sicht auf die Dinge, die uns geradezu die Vorstellung verbietet, nicht Herr unserer Handlungen und dadurch womöglich einem „Weltgeist“ ausgeliefert zu sein.

Im Hauptwerk Oswald Spenglers findet sich eine etwas mystische, aber gerade deshalb plausible Beschreibung dieses Vorgangs, die zu erklären hilft, warum wir heutigen Menschen, konservative wie linke, vom „Schicksal“ eigentlich nichts wissen wollen: „In der Schicksalsidee offenbart sich die Weltsehnsucht einer Seele, ihr Wunsch nach dem Licht, dem Aufstieg, nach Vollendung und Verwirklichung ihrer Bestimmung. Sie ist keinem Menschen ganz fremd, und erst der späte, wurzellose Mensch der großen Städte mit seinem Tatsachensinn und der Macht seines mechanisierenden Denkens über das ursprüngliche Schauen verliert sie aus den Augen (…) Denn die Welt als System kausaler Zusammenhänge ist spät, selten und nur dem energischen Intellekt hoher Kulturen ein sichrer, gewissermaßen künstlicher Besitz.“

Dabei schließen sich verstandesmäßige Handlungen und daraus folgende, unkontrollierbare Abläufe, also Kausalität und „Schicksal“, keineswegs aus, sondern hängen sogar eng miteinander zusammen. Nur als Beispiel: Es war das „Schicksal“ der europäischen Kolonialmächte, daß die kontrollierten Völker irgendwann gegen ihr Los aufbegehren würden, sobald sich die europäische Ethik wandelte. Mit diesem Schritt setzte eine Entwicklung ein, die den früheren Prozeß gewissermaßen umkehrte und, im kulturbiologischen Sinne, die „Gewinner“ von gestern zu den „Verlierern“ von morgen macht. Es gibt also eine Dynamik in der Gewalt der Verhältnisse, die sich durchaus voraussehen läßt, weil sie innerhalb des „Schicksals“ kausal funktioniert.

Was bedeutet das für die heutige Situation der Deutschen und Europäer? Bei aller „Freiheit“, die bleibt, um tagespolitische Fragen zu entscheiden, sollte mehr Realitätssinn für die Tatsache aufgebracht werden, daß jeder Entwicklungsgrad ein bestimmtes arttypisches Verhalten hervorbringt. Gesellschaftliche Bedingungen steuern das Denken und Handeln stärker, als wir uns das gemeinhin eingestehen mögen. Wie sich der Mensch tendenziell politisch verhält, hängt von den großen Zeitströmungen ab, die ihn tragen. Somit ist der historische Entwicklungsgrad einer Nation zugleich deren „Schicksal“. Ernsthafter Handlungsspielraum besteht nur innerhalb der vorhandenen Bedingungen.

Dieser Spielraum soll und muß natürlich genutzt werden. Zugleich ist es aber ratsam, sich auf eine gewisse „Liebe zum Schicksal“ im Sinne Nietzsches (amor fati) einzulassen, um nicht Opfer lähmenden Verdrusses zu werden. Das heißt nicht, vor den Dingen zu kapitulieren, sondern ihnen entschlossen ins Auge zu sehen.

 

Frank Lisson, Jahrgang 1970, studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie und arbeitet als freier Autor ( www.franklisson.de ). Zuletzt veröffentlichte er „Homo absolutus. Nach den Kulturen“ (Edition Antaios, Schnellroda 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über kulturelle Umbrüche („Die Macht der Tendenzen“, JF 1/10).

Wie steht es um unser Zusammengehörigkeitsgefühl als Volk? Kann uns der Begriff der Schicksalsgemeinschaft heute überhaupt noch etwas sagen? Wo stehen wir als Nation? In der Artikelreihe auf dem Forum, die in lockerer Folge thematisch um unser kollektives Schicksal als Nation kreist, setzt sich der Kulturphilosoph Frank Lisson kritisch mit den Vorstellungen Larsen Kempfs („Ein Aufbruch ist immer möglich“, JF 13/10) auseinander.

Foto: Deutschland gucken: Die Sehnsucht nach dem Reich und „Deutschlands großer Zeit“ – Traumfabrikkino für die Seele, das den Blick auf die Tatsachen verstellt

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