© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Absturz bei Katyn
Die polnische Tragödie
Dieter Stein

Nicht nur das polnische Volk ist vom tragischen Absturz der polnischen Regierungsmaschine am vergangenen Samstag berührt, bei dem eine große Zahl führender Repräsentanten dieses Landes – allen voran der Präsident Lech Kaczyński – ihr Leben verloren. Ein unwirklicher Schicksalsschlag, der eine Nation an ihrem mythischen Ort trifft: Katyn. Dort waren vor 70 Jahren auf Befehl Stalins 22.000 polnische Offiziere, Polizisten und Intellektuelle in einem wochenlangen Massaker ermordet worden.

Zum Gedenken an dieses für die nationale Seele des Landes bedeutende Verbrechen, das gezielt die polnische Elite enthaupten sollte und dessen Verantwortung die Sowjetunion bis zu ihrem Untergang 1990 Deutschland angelastet hatte, war Kaczyński nach Katyn aufgebrochen. Der polnische Präsident hatte in einer Rede den Ort als das „polnische Golgatha des Ostens“ bezeichnen wollen: eine Anspielung auf das Bild des Nationaldichters Adam Mickiewicz, der im 19. Jahrhundert von den Polen als „Christus der Völker“ sprach, einem Volk, das wie der Erlöser am Kreuz leide, für die Freiheit aller.

Tatsächlich hat gerade die polnische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts den erwachenden deutschen Nationalismus beflügelt. Der von Rußland 1831 niedergeschlagene polnische Aufstand inspirierte neben der Pariser Julirevolution von 1830 die deutschen Patrioten nachhaltig. Der im Januar 1832 von den Publizisten Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Johann Georg August Wirth gegründete „Deutsche Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse“ empfahl die polnischen Freiheitskämpfer als Vorbild. Der Verein organisierte im selben Jahr das berühmte Hambacher Fest, das Fanal der schwarzrotgoldenen deutschen Nationalbewegung, bei dem Abordnungen polnischer Aufständischer als Helden empfangen und ihre Fahnen mitgeführt wurden.

Nach der deutschen Einigung von 1871 und im Verlauf des 20. Jahrhunderts sollte sich die nationale Emanzipationsbewegung in Chauvinismus wenden – Polen sieht sich hier heute immer noch ausschließlich in einer Opferrolle, die obsessiv mystifiziert wird. Sein legitimes Interesse an einer geschichtspolitischen Würdigung seines nationalen Leides – insbesondere gegenüber dem russischen Nachbarn – müßte jedoch endlich auch öffentlich deutlicher der selbstkritischen Erkenntnis weichen, historisch nicht nur Opfer, sondern in entscheidenden Phasen nicht unmaßgeblich Täter gewesen zu sein.

Die Rolle der polnischen Regierungen der Zwischenkriegszeit, Vertreibungen und Pogrome in den dreißiger und vierziger Jahren gegenüber Deutschen sind wenig ausgeleuchtet, Warschaus Anteil an der Eskalation des deutsch-polnischen Konflikts bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs harrt breiter Würdigung – einschließlich der schon vor dem Krieg gehegten und nach 1945 realisierten Vertreibungspläne gegenüber den Deutschen.

Im jetzigen Moment aber überwiegt bei jedem Patrioten die Ergriffenheit vor der in Polen eindrucksvoll demonstrierten Vaterlandsliebe angesichts einer erschütternden Tragödie.

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