© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Pankraz,
S. L. Clemens und die zwei Faden Wasser

Samuel Langhorne Clemens muß niemand extra vorstellen. Seine Gestalten, Tom Sawyer, Huckleberry Finn, Nigger Jim, nisten unvertreibbar im Kleinhirn jedes Gernelesers und Kinofreunds, ob in Amerika, Europa oder Asien. Sein Schriftstellername, Mark Twain, stammt aus dem Mississippi-Schiffer-Jargon und bedeutet „Zwei Faden Wasser unterm Kiel“. Clemens, gelernter Mississippi-Schiffer, ist vor hundert Jahren, am 21. April 1910, im Alter von vierundsiebzig gestorben, doch seine zwei Faden wird er wohl immer unterm Kiel behalten.

Er war eine höchst widersprüchliche Figur, und Pankraz möchte hier kurz drei seiner größten Widersprüche anleuchten: Erstens: Mark Twain, der Humorist und Menschenfeind. Zweitens: Mark Twain, der Yankee und Anti-Yankee. Drittens: Mark Twain, der Freund der Deutschen und sarkastische Kritiker der deutschen Sprache.

In vielen Nachschlagewerken, zum Beispiel in Gero von Wilperts „Lexikon der Weltliteratur“, wird er tatsächlich allen Ernstes als „Humorist“ rubriziert und abgehandelt, als wäre er eine Art amerikanischer Hape Kerkeling, und zahllose seiner Zeitgenossen fanden das seinerzeit auch völlig normal und angemessen. Clemens’ angestammtes Genre war das „humoristische Feuilleton“, unzählige einschlägige Texte hat er verfaßt und in irgendwelchen Bumszeitungen untergebracht. Auch trat er vor vollen Sälen als Spaßmacher auf, trug seine Texte in freier Rede vor und erntete stürmischen Beifall.

Bei vielen Gebildeten stieß er lange Zeit auf Ablehnung. Selbst Bücher wie „Tom Sawyer“ und „Huckleberry Finn“ galten als unanständig, es gab von ihnen nur „gereinigte“, „für die Jugend geeignete“ Fassungen. Man übersah aber leicht, daß schon in diesen Büchern (wie in denen vieler anderer Humoristen, zum Beispiel Wilhelm Busch) ein finsterer Fatalismus waltete, Menschengleichgültigkeit, die sich mit zunehmendem Alter vertiefte und den Mann für seine Familie ziemlich unerträglich gemacht haben dürfte.

Mark Twain war trotz seiner Südstaaten-Herkunft ein Yankee reinsten Wassers. Er sah sich in erster Linie als Geschäftsmann, welcher der Mississippi-Schifferei bald ade sagte, um nach Kalifornien zum „Goldrausch“ aufzubrechen. Das ging freilich schief, und nun warf sich Mr. Clemens aufs Druckgewerbe. Er gründete und veräußerte Zeitungen und Druckereien, heiratete in reiche Pressezaren-Kreise ein und machte schließlich eine Rieseninvestition in neuartige, „ungeheuer produktive“ Setzmaschinen, die niemand kaufen wollte und die ihn in den totalen Bankrott trieben.

Was aber die große Politik betrifft, so war Mark Twain stets ein scharfer Anti-Yankee, ein Anti-Imperialist avant la lettre, der die frühen US-Abenteuer in der Karibik oder auf den Philippinen mit ätzender Kritik übergoß. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er überwiegend in Europa, nicht zuletzt in Heidelberg und in Berlin, wo er sich besonders wohlfühlte. Er pries die deutsche Hauptstadt als Mekka der Wissenschaft und der avancierten Technik, und Kaiser Wilhelm II. empfing ihn ganz unprotokollarisch zum Mittagessen und unterhielt sich mit ihm über Tom Sawyer – natürlich auf englisch.

Die deutsche Sprache war und blieb für den großen Spötter Samuel Langhorne Clemens ein ständiger Anlaß für maliziöse philologische Scherze; er hat darüber ein ganzes Buch geschrieben. Er sah sie als eine Art Chinesisch, amüsierte sich darüber, daß in ihr Subjekt und Prädikat endlos auseinandergezogen würden, um dazwischen alle möglichen weiteren Bestimmungen unterzubringen, und scherzte über die bestimmten Artikel „der, die, das“ und daß man zwar „die Frau“, aber „das Fräulein“ sagen muß.

Höchst fremdartig berührte ihn auch die „unbekümmerte Assoziationswut“ des Deutschen. Während die Engländer für neue Tatbestände ganz bieder knappe Wörter schüfen und sie dann flektierend in den Sprachduktus einbauten, stellten die Deutschen (genau wie die Chinesen) einfach Stammwörter nebeneinander, wodurch oft wahre Wortschlangen entstünden, „Sommerfrische“, „Feingefühl“, „Randbemerkung“ (um nur drei eher gemäßigte zu zitieren).

In Heidelberg zu einer Tischrede gebeten, warnte Clemens, ja, er wolle reden, sogar auf deutsch, könne es jedoch trotzdem „nur amerikanisch-kurz“ machen, bitte um Verständnis. Man bat und drängte ihn dennoch, und so sagte er denn: „Werte Festgäste, freßt feste!“ Und setzte sich wieder. Natürlich war das nicht nur amerikanisch kurz gesprochen, sondern es war der typische Huckleberry-Finn-Stil, den die Sprachpfleger und Jugendschützer damals so sehr übel nahmen.

Heute sind an ihre Stelle die Aufpasser der Political Correctness getreten, die Mark Twain groteskerweise des Rassismus und des Antifeminismus bezichtigen. In manchen Schulen drüben stehen seine Werke bereits unter Verdacht, so daß eventuelle Leser beim „adviser“ anfragen müssen. Aber selbstverständlich läßt sich der große Mississippi-Schiffer auf diese Weise nicht aus den Gehirnen vertreiben.

Wo auch immer von Mark Twain gesprochen wird, denkt man an hochberühmte, wundersam ins Wort gefaßte Momente der Weltliteratur, an die Szene etwa, wo Tom Sawyer den Zaun von Tante Polly anstreicht, oder wo Huck Finn auf dem nächtlichen Friedhof dem Teufel eine tote Katze hinterherwirft. Oder wo die verhungerte Leiche von Indianer Joe hinter dem zugemauerten Höhleneingang gefunden wird. Oder wo die Gemeinde im Gottesdienst tränenreich der scheinbar verstorbenen Tom und Huck gedenkt und diese, auf der Ballustrade versteckt, tief bewegt ihre eigene Leichenpredigt anhören.

Solche Sachen kommen nicht von ungefähr. Humorist und Menschenfeind, Yankee und Anti-Yankee, Völkerfreund und Sprachskeptiker müssen da zusammengehen, und es muß auch noch der Funke zünden, die Intuition des Augenblicks, ohne die große Literatur nicht möglich ist. Das sind die zwei Faden unterm Kiel, die auch an Land gebraucht werden.

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