© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Wir seyn grobe Tölpel
Lehrer der Weisheit: Der Humanist Philipp Melanchthon steht seit jeher im Schatten Luthers
Frank Lisson

Die Frage nach Wesen und Bedeutung eines Menschen ist immer die nach der Aufgabe, die er sich stellt: Was will er leisten? Ein Mensch wird erst zur Persönlichkeit durch das, was er leistet. Und die Geschichte entscheidet darüber, ob oder wie seine Leistung anerkannt wird. Wer sich nun nicht schlüssig darüber ist, was genau seine Aufgabe eigentlich sei, sondern vor lauter Neigungen, Interessen und Begabungen gar nicht weiß, welcher er sich am meisten widmen soll, dem kann die eigene Vielseitigkeit sogar hinderlich werden.

Ein solcher Mensch war der Philologe, Philosoph, Pädagoge und Reformator Philipp Melanchthon, der vor 450 Jahren in Wittenberg starb.

Die Leistung Melanchthons steht eindeutig im Schatten der Leistung Luthers. Insgesamt zwar gebildeter und scharfsinniger als der rebellische Mönch, aber eben auch leiser, grüblerischer, unentschlossener, fehlte Melanchthon die Radikalität, Durchsetzungskraft und Originalität, das innere Feuer, das ein „Genie“ auszeichnet. „Die ganz großen Denker ragen wie erratische Blöcke aus ihrer Zeit und aus ihrer Tradition hervor und sind unbeschadet aller Einflüsse, die von der Forschung ermittelt werden, letztlich nur aus sich selbst heraus verständlich. Solche gibt es ganz wenige. Vielleicht war Luther einer, Melanchthon gewiß nicht. So, wie er geworden ist und gewirkt hat, ist er ohne Luther nicht denkbar“, urteilt der renommierte Melanchthon-Forscher Heinz Scheible in seiner maßgeblichen Biographie des schwer faßbaren Gelehrten (Melanchthon, München 1997).

Als der junge Melanchthon 1518 seine kurpfälzische Heimat verließ, um als Professor für Griechisch an die Universität Wittenberg zu gehen, tat er dies auf Veranlassung seines Großonkels und Förderers Johannes Reuchlin, eines der bedeutendsten deutschen Humanisten jener Zeit. Beide hofften, Melanchthon werde sich im fernen, noch recht unbedeutenden Wittenberg intellektuell besser entfalten können als an der etwas behäbigen und verkrusteten Universität Tübingen, wo er seine ersten akademischen Erfahrungen als Lehrer gemacht hatte. In Wittenberg wurde der feinsinnige und stets abwägende Melanchthon jedoch mit dem Charisma und der ganzen persönlichen Wucht Martin Luthers konfrontiert.

Was ist Glaube anderes  als ein unbedingter Wille?

Als Mensch des Humanismus stand Melanchthon vor den Weiten einer sich öffnenden Welt und Natur, in der nicht mehr allein der Glaube, sondern zunehmend die Vernunft eines individuellen Selbstbewußtseins den Blick auf die Dinge lenkte. Zwar blieb auch für ihn Gott die oberste Instanz, aber eben als eine Autorität, die sich durchaus über den Verstand fassen lassen mußte. Deshalb schlossen sich Theologie und Philosophie keineswegs aus, sondern bedingten einander sogar. Melanchthon suchte nach der „Wahrheit“ in der Religion, und zwar im Sinne einer Logik in Gott. Das brachte ihm, wie allen Humanisten, von theologischer Seite den Vorwurf mangelnder Glaubenskraft ein.

Was aber ist der Glaube anderes als ein unbedingter Wille? Der Wille nach einer ganz bestimmten Weltordnung, der immer dann am mächtigsten wird, wenn er seine eigene Freiheit leugnet? Gott habe alles im Griff, und wir Menschen seien seinem Willen unterworfen, weshalb niemand einen „eigenen“ haben könne. So lag das entscheidende Wesensmerkmal, das die Humanisten von den Theologen unterschied, in der Beantwortung der Frage nach der Willensfreiheit des Menschen.

Während führende Humanisten wie Erasmus von Rotterdam in dieser Frage eine klare Position zugunsten der Willensfreiheit bezogen, die sie zu vehementen Gegnern Luthers machte, wollte Melanchthon sich für keine Position eindeutig entscheiden. Am Ende fand er, wie so oft, zu einer dialektischen Lösung, die beiden Seiten gerecht wurde. In seinem bis heute vielleicht bedeutendsten Werk, dem Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana) von 1530, heißt es kompromißbereit: „Vom freien Willen wird also gelehrt, daß der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift; aber ohne Gnad, Hilf und Wirkung des heiligen Geistes vermag der Mensch nicht Gott gefällig zu werden.“

Seine enge, ja beinahe unterwürfige Bindung an Luther (Scheible spricht von „Verliebtheit“) grenzte vielen Humanisten an Verrat. Zuletzt wurde er sogar von seinem Großonkel Reuchlin enterbt, der Melanchthon an die Universität Ingolstadt holen wollte, um ihn den „ketzerischen Umtrieben“ zu entziehen. Als Melanchthon ablehnte, wünschte Reuchlin keinen Kontakt mehr. Dabei lag dem schmächtigen, „merkwürdig weichen und edlen Mann“ (Stefan Zweig) nichts ferner als „ketzerische Umtriebe“. Zwar wollte Melanchthon die überfälligen kirchlichen Reformen, die auch von den Humanisten gefordert wurden, auf friedlichem Weg durchsetzen. Zugleich lag ihm aber alles daran, die Einheit des christlichen Abendlandes nicht zu gefährden. Er suchte stets Verständigung mit Rom und zweifelte, im Unterschied zu Luther, nicht an der Autorität des Papsttums; denn das Gefüge der Welt, das Orientierung und Gesetzmäßigkeit stiftete, dürfe nicht ins Wanken geraten. Er war in jeder Hinsicht ein Ordnungsmensch.

Anders als die meisten Humanisten, die ihre Schwierigkeiten mit Institutionen wie Vaterland oder Kirche, aber auch mit dem Glauben als solchem hatten, verstand sich Melanchthon durchaus als Christ und Patriot. „Melanchthon fühlte sich keineswegs als Kosmopolit, sondern als Deutscher. Er liebte sein Vaterland und die deutsche Geschichte“, bemerkt Robert Stupperich in seinem Buch „Der unbekannte Melanchthon. Wirken und Denken des Praeceptor Germaniae in neuer Sicht“ (Stuttgart 1961). Deshalb empfand er es als seine Pflicht, die Deutschen pädagogisch zu „versittlichen“. Denn „wir seyn grobe Tölpel“. So wurde er zum Begründer zahlreicher schulischer Einrichtungen und vor allem zum Reformator des Unterrichts in Deutschland, dessen Niveau er deutlich anhob, indem er neue (eigene) Lehrbücher einführte und den Schwerpunkt noch stärker auf das Erlernen der klassischen Sprachen legte. „Melanchthons grammatische Schriften übertrafen alle früheren an Ordnung, Deutlichkeit und Gründlichkeit; lange Zeit blieben sie die beliebtesten Lehrbücher in den Schulen; in Sachsen hat sich seine lateinische Grammatik bis zum Jahre 1734 in den öffentlichen Anstalten erhalten.“ (Carl Schmidt, Melanchthon. Leben und ausgewählte Schriften, Elberfeld 1861).

Zum „Lehrer Deutschlands“ (Praeceptor Germaniae) wurde Melanchthon also nicht etwa, weil er ein betontes „Deutschsein“ lehrte, so wie im 19. Jahrhundert Persönlichkeiten, die für besonders „deutsch“ galten (Rembrandt, Luther, Bismarck), den Titel „Erzieher“ verliehen bekamen, sondern gewissermaßen im Gegenteil: Indem er nach humanistischer Manier die alten Sprachen zur Grundlage aller Bildung erklärte, wollte er die Deutschen zur Weisheit und Gelehrsamkeit führen. Das heißt, über die Aneignung „fremder Elemente“ sollten die Deutschen zur Erkenntnis der „reinen evangelischen Lehre“ aus der Heiligen Schrift und dadurch wiederum zur eigenen Sittlichkeit finden.

Nichts lag ihm ferner als ketzerische Umtriebe

Bei seinem Streben nach Weisheit und Gelehrsamkeit bemühte sich Melanchthon, auf sämtlichen Gebieten des damaligen Wissens heimisch zu werden. Kaum eine Disziplin, die ihn unberührt ließ. Neben den Schwerpunkten, dem Griechischen und Lateinischen, der Philosophie und Theologie, beschäftigte er sich mit Rhetorik, Dialektik, Ethik, Geschichte, Anthropologie, Physik und Astronomie. Über fast alle diese Wissenschaftsbereiche hat er eigene Lehrbücher verfaßt. Darüber hinaus hielten ihn seine Zeitgenossen für einen bedeutenden Dichter griechischer und lateinischer Verse. Nach eigener Einschätzung beherrschte Melanchthon die alten Sprachen sicherer und gewandter als das Deutsche, obwohl er auch in der Muttersprache zu glänzen verstand.

Die zeitlose Größe und Leistung Melanchthons besteht jedoch in seiner Milde, Selbstlosigkeit und unerschütterlichen Liebe zur „Wahrheit“. Darin sah er seine Aufgabe. „Platon sagt“, heißt es in einem der vielen öffentlichen Vorträge, „ein Redner solle nicht nach dem Beifall der Menge trachten, sondern nur, daß er Gott gefalle. Laßt uns daher von ganzem Herzen alle unsere Kräfte darauf richten, die Wahrheit zu finden und sie aufs Klarste und Einfachste darzustellen.“

Eine Anekdote erzählt, daß die Bürger Wittenbergs, nachdem Melanchthon am 19. April 1560 dort gestorben war, ihre Kinder über den aufgebahrten Leichnam hielten, damit sie einstmals berichten könnten, einen „wahren Menschen“ gesehen zu haben.

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