© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/10 16. April 2010

Zivilisiert erst mit der Zivilgesellschaft
Ein Sammelband verortet das geschichtsphilosophische Gründungsdatum der Bundesrepublik auf das Jahr 1968
Karlheinz Weissmann

Die „zweite Gründung“ der Bundesrepublik soll mit dem Jahr 1968 vollzogen worden sein. Dahinter steht die geschichtsphilosophische Idee, daß Westdeutschland erst durch Apo, Studentenrevolte und sozialliberale Reform jenen Grad an Zivilisiertheit erreichte, der im großen Plan vorgesehen war. Mittlerweile hat diese  Vorstellung jenen Grad von Selbstverständlichkeit, daß sie niemand, der mitreden will, ernsthaft in Frage stellt.

Das gilt auch für die Autoren des Sammelbandes „Die zweite Gründung der Bundesrepublik“, der als Band 8 der Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft von Franz-Werner Kersting, Jürgen Reulecke und Hans-Ulrich Thamer heraugegeben wurde – obwohl erhellende Einsichten nicht fehlen. Man wird vielmehr die Beiträge von Peter Hoeres (über „Aneignung und Abwehr der Demoskopie“), Daniel Schmidt (über die Reaktionen der CDU auf die Neue Linke) oder Tobias Freimüller (über den Einfluß von Alexander Mitscherlich) mit einigem Gewinn lesen.

Hervorzuheben sind aber vor allem die Aufsätze von Klaus Große Kracht und Marcus M. Payk. Große Kracht hat sich mit dem „Sendungsbewußtsein“ katholischer Intellektueller zwischen 1945 und 1960 befaßt, was zwangsläufig zur Beschäftigung mit dem Umfeld der Union führte. Interessant ist in dem Zusammenhang, daß Große Kracht nachweisen kann, wie deutlich sich schon Mitte der fünfziger Jahre ein Einstellungswandel anbahnte, der bei den Jüngeren dazu beitrug, daß die Idee der „Rechristianisierung“, die nach dem Zusammenbruch eine erhebliche Rolle in der öffentlichen Debatte gespielt hatte, ad acta gelegt wurde. Das war bei Katholiken bemerkenswerter als bei Protestanten, hing jedenfalls mit der Einsicht zusammen, daß die gesellschaftlichen Veränderungen kaum noch Raum für die Absicht ließen, das soziale Ganze gemäß christlichen Leitvorstellungen zu ordnen. Interessant ist in dem Zusammenhang der Hinweis, daß die These Schelskys vom Auftreten einer „skeptischen Generation“ für die jungen Katholiken in der „Zusammenbruchsgesellschaft“ nicht überzeugt. Die große Ernüchterung kam eigentlich erst in der Phase des Wiederaufbaus, als Rainer Barzel, der gerade noch die Erneuerung des Naturrechts forderte, nun ein Mehr an Realismus verlangte und schon 1956 in bezug auf die Union erklärte, mit „einem betont ‘christlichen’ Programm wird sie die Mehrheit nicht erringen“.

Ohne Zweifel hätte der Aufsatz von Große Kracht durch Rückgriff auf Primärquellen noch gewonnen. Man merkt das deutlich beim Vergleich mit dem Text von Payk, der verschiedene Nachlässe einsehen konnte, um eine Untersuchung über das redaktionelle Selbstverständnis der meinungsbildenden konservativen Zeitungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte – Welt, FAZ und Christ und Welt – zu schreiben. Dabei skizziert er nicht nur die unterschiedlichen Ausgangslagen, sondern auch die Gesamtentwicklung, die sich bis zum Vorabend der Studentenrevolte vollzog. Aufschlußreich ist in dem Zusammenhang der Erfolg der Frankfurter Allgemeinen (obwohl sie als letztes der genannten Blätter gegründet worden war) einerseits und der kontinuierliche Abstieg von Welt und Christ und Welt andererseits.

Selbstverständlich spielte der Wandel des Zeitgeistes eine Rolle, der etwa der nach links gewendeten Zeit sehr zugute kam und Organen, die mit dem „Adenauer-Deutschland“ in Verbindung gebracht wurden, eher schadete, aber auch unternehmerische Entscheidungen (etwa Holtzbrincks Verkauf seiner Anteile von Christ und Welt, Axel Springers Wille, die Welt um jeden Preis als „Flaggschiff“ zu erhalten) wirkten sich aus.

Wenn Payk demgegenüber den Generationenkonflikt für unbedeutend hält, kann man ihm in dieser Einschätzung grundsätzlich folgen. Allerdings war die Entschlossenheit der „jungen Macher“ (Armin Mohler), an die Spitze zu kommen und sich dazu vergangenheitspolitischen Drucks zu bedienen, doch ebenso ein gesamtgesellschaftliches Phänomen in den sechziger Jahren wie die Bereitschaft einiger Älterer, sie zu decken oder sogar zu fördern, um die eigene Position nicht zu gefährden.

Insofern wäre es fruchtbar gewesen, die drei Zeitungen als Modelle denkbarer Reaktionsweisen angesichts der neuen Herausforderungen zu betrachten: wobei der Widerstand der Welt scheiterte (durch den unerwarteten Tod Hans Zehrers und die Wankelmütigkeit Springers), das Taktieren von Christ und Welt das Ende nur hinauszögerte und der moderate Anpassungskurs der FAZ letztlich am erfolgreichsten war. Dieser Aspekt wäre Payk wohl klarer geworden, wenn er etwas kritischer nachgeforscht hätte, vor allem, was die Rolle Karl Korns im FAZ-Feuilleton angeht.

Korn entsprach ziemlich genau dem Muster des Bürgerlichen, der den Aufmarsch der Linken schützte, weil er die begründete Sorge hatte, daß im Fall der Weigerung die eine oder andere unerfreuliche Wahrheit zutage gekommen wäre – und nicht nur das unappetitliche Lob für Veit Harlans „Jud Süß“ in Joseph Goebbels’ Reich. Auffällig sind jedenfalls die bis heute nicht geklärten Lücken in Korns Vita – und Payks eigene Feststellung in einer vor zwei Jahren erschienenen Monographie, daß über Aspekte von Korns militärischem Einsatz „nur wenig in Erfahrung zu bringen“ sei, müßte eigentlich stärker zu Nachforschungen über dessen Biographie anregen.

Fest steht jedenfalls, daß in dem Verhalten, wie es Korn zeigte – seiner „Liberalität“ –, eine wesentliche Ursache für das Zerbrechen jener „Redaktionsgemeinschaften“ der frühen Jahre lag, die Payk überzeugend charakterisiert hat, der „Teams“ (Hans Zehrer) aus den desillusionierten, aber erfahrenen Älteren und den unerfahrenen, aber leistungsstarken Jungen. Das veränderte gesellschaftliche Klima bot veränderte Chancen, und die wurden von den Jungen gegen die Älteren genutzt. Das ist nicht neu, aber doch der Erwähnung wert, bevor die Interpretation wieder in Allgemeinheiten über den Sieg der „Zivilgesellschaft“ im Gefolge von ’68 abschwenkt.

Franz-Werner Kersting, Jürgen Reulecke und Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationenwechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2010, broschiert, 288 Seiten, 44 Euro

Foto: Rudi Dutschke fordert im Juni 1967 in der Berliner Neu-Westend-Kirche die Freilassung des Kommunarden Fritz Teufel: Von „jungen Machern“ im publizistischen Betrieb begleitet

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